Inhalt
Tommy ist 10 1/2 Jahre alt: ein gestörter Junge, das Opfer von Drogenmissbrauch, Verwahrlosung, psychischer und physischer Misshandlung, dessen einzige Kommunikation mit seiner Umwelt in gewalttätigen Ausbrüchen besteht. Er kann nicht anders, er kennt nichts anderes. Verwahrlost aufgewachsen, ist er nun eine Gefahr für die Gesellschaft und abgeschrieben. Wir sehen ihn vorm TV, wo er sich masturbierend Pornos reinzieht, die er kaum versteht. Als er einen jüngeren, und schwächeren Jungen annimiert, sexuell mit ihm herum zu experimentieren, wird er von dessen älterem Bruder brutal zusammengeschlagen. In einem Hochsicherheitstrakt für jugendliche Täter, wo Tommy landet, kümmert sich der Jugendpsychologe Gilles Séguin verständnisvoll um ihn. Wird er Tommys unglaublich harte Schale zu knacken? Wird er zum Soziopathen, oder ist er noch zu retten... ?
Kritik
Tommy (stark: der damals zwölfjährige Robert Naylor) kratzt und schlägt, beißt und spuckt. Er ist zehneinhalb, ein Alter, in dem er eigentlich mit den Gleichaltrigen die Schulbank drücken müsste und in seiner Freizeit die Welt entdecken. Tommy entdeckte in seinem jungen Leben aber bereits ganz andere Dinge. Physische und psychische Gewalt, Vernachlässigung durch drogenabhängige Eltern und schließlich die Einweisung in ein Heim für schwererziehbare Kinder, weil er einen anderne Jungen dazu zwang, seinen Schwanz zu lutschen. Gesehen hat er das schon dutzende Male auf Video.
Wer denkt, die obige Zusammenfassung spiegelt den gesamten Plot des Films wieder, der irrt. Tatsächlich sind es die ersten fünf Minuten. Der franko-kanadische Regisseur Daniel Grou setzt alles auf Konfrontationskurs und macht bereits zu Beginn klar, „mit „10 ½“ wirst du keinen Spaß haben, mein Freund.“ Im Heim angekommen, stellt sich schnell heraus: die stringente Ordnung und der geregelte Tagesablauf sind nichts für Tommy. Er ist ein Außenseiter unter Außenseitern, müsste in die vierte Klasse gehen, doch kann er nicht mal lesen noch schreiben. Zu Tisch „frisst er wie ein Schwein“, wie die anderen Kinder verachtend feststellen.
Es vergeht eine volle Stunde Film im Heim, bestehend aus Wutanfällen, Bestrafung, Zerstörung, Verzweiflung, Resignation, bis wir den Grund für Tommys Zustand kennenlernen, seine Elter. Das Team um den aufopferungsvollen Sozialarbeiter Gilles (Claude Legault) durchlebt ein Wechselbad der Gefühle. Es ist nicht nur Tommy, der den Beruf zum Spießrutenlauf macht, die anderen Kinder sind ja auch nicht grundlos im Heim. Da werden am Konferenztisch auch unorthodoxe Mittel kontrovers diskutiert, wie Abschiebung in eine Psychatrie oder die Ruhigstellung durch Medikamente.
„10 ½“ ist ein filmischer Tritt in die Fresse der Laissez-Fair-Eltern. Doch die Gründe in Tommys Entwicklung sind nicht (nur) in den fehlenden Grenzen zu suchen, schwerer wiegt die fehlende Emotionalität und damit einhergenende Vernächlassigung zu den Eltern, die von Tommy gesucht, aber im Besonderen von seiner Mutter nicht beantwortet wird. Diese ist es auch, die kennzeichnend für eine verrottete Gesellschaft steht. Durch jahrelangen schweren Drogenkonsum vegetiert sie als Schatten des eigenen Schattens auf einer Krankenstation, der sehr emotionale Anruf Tommys im letzten Drittel des Films dringt kaum in ihren medikamentösen Schädel. Doch wie die Erziehung Tommys ohne Grenzen verlaufen ist, so weiß auch der Film nicht so richtig mit Genre- und Konfessionsgrenzen umzugehen. Die wenigen hellen Momente werden schnell wieder durch die beklemmende Realität eingeholt, „10 ½“ ein kein vergnüglicher Feel-Good-Streifen.
So manches Mal überspannt Daniel Grou in seinem menschlichen Drama aber auch den Bogen, beispielsweise wenn er Tommy in die Hände eines Pädophilen fallen lässt. Gerade diese Sequenz fordert viel und bietet wenig, letztendlich erweist sie sich als unnötig. Verweise auf sexuellen Missbrauch in der Vergangenheit? Der Film bleibt dieser und vielen anderen Antworten schuldig. Der Film gewann den Großen Preis des 59. Internationalen Filmfestivals Mannheim - Heidelberg und fristet zu Unrecht ein Nischendasein.
Fazit
Es ist keine Charakterstudie, zumal sich der Charakter eines Menschen mit zehneinhalb Jahren noch in der Entwicklung befindet. Wie Tommys Leben als junger Erwachsener aber verlaufen könnte, wurde in vielen anderen Filmen schobn abgehandelt. Viel mehr ist „10 ½“ ein dreckiger, kleiner Film über Gewalt, im Elternhaus wie gesellschaftliche. Seine vorhandenen glücklichen Momente machen den Film ein stückweit erträglich, ein großes Stück human. Zurecht preisgekrönt.
Autor: Magnus Knoll