Wenn die Jury bei der Preisvergabe besonders progressiv sein will, ist das meist ein Warnzeichen. Zum einen dafür, dass hinter den Kulissen alles daran gesetzt wird, von der Indolenz der Berlinale abzulenken. Zum anderen dafür, dass die Cineastik die Verliererin ist. Dieses schale Gefühl bleibt nach einem Festival, dessen rekursiver Wettbewerb repräsentativ für ein spannungsarmes Programm stand. Der Goldene Bär für Adina Pintilies semi-dokumentarisches Drama Touch Me Not bettelt um den Nimbus der Kontroverse und Innovation, die beide dieses Jahr rar gesät waren. Auf den Grund für diese verkappte Befangenheit verwies Ana Brun, die für ihre Rollen in Las Herederas als Beste Darstellerin ausgezeichnet wurde: „Wir leben in einer sehr konservativen Gesellschaft.“
Diese Gesellschaft belohnt diejenigen, die ihre zahme Kritik übervorsichtig und voll ängstlicher Pietät vortragen wie Małgorzata Szumowska in Mug. Konforme Gesellschaftskritik ist effektiver zur Bewahrung des Status quo als die Unterbindung von Kritik, denn sie suggeriert, dass repressive Strukturen aufgebrochen würden, ohne daran zu rühren. Konforme Kritik regt die Reaktionäre nicht auf und lullt Skeptiker ein. Ähnlich wie kalkulierte Skandale. Die Boulevard-Medien taten ihre Pflicht, fragten empört, wie viel Sex die Berlinale vertrage, und verkündeten, die Presse sei vor zu viel Sex geflohen. Wer jetzt denkt „Mist, hätte ich mich mal doch akkreditieren lassen“: Alles ist vermutlich spannender als der synthetische Aufruhr, der auf kuriose Weise an den werbewirksamen Skandal um Intimacy erinnert.
Die bei der Pressevorführung flohen, taten das vermutlich vor Überdruss angesichts einer auf Spielfilmlänge ausgewalzten Plattitüde. Wo viel Sex ist, wird natürlich Buße getan. Daher ging der Silberne Bär für den Besten Darsteller an Anthony Bajon, der die Religionsbotschaft von The Prayer anschließend auf der Pressekonferenz untermauerte. Stagnation und Inflexibilität sind das dürftige Resümee der 68. Berlinale, die mit Nachhaltigkeit und Inklusion im selben Atemzug wirbt wie für Nespresso, Audi, L‘Oreal und Mastercard und die Privilegierte in einer exklusiven Lounge verköstigt. In den Worten Bill Murrays, der Wes Andersons Silbernen Regie-Bären entgegennahm: „Über den Film zu reden ist nicht immer so interessant wie den Film zu machen.“ Das Gleiche gilt fürs Filme gucken.
Persönliche Preisvergabe:
Bester Film: Figlia Mia
Beste Regie: Laura Bispuri
Silberner Bär Großer Preis der Jury: Khook
Beste Darstellerin: Ana Brun *
Bester Darsteller: Gael Garcia Bernal
Bester Erstlingsfilm: Blue Wind Blows
Bestes Drehbuch: Manuel Alcalá & Alonso Ruizpalacios
Bester Dokumentarfilm: The Trial
Schlechtester Dokumentarfilm: The Green Lie
Naturfreundlichster Film: Journey to the Fumigated Towns
Naturfeindlichster Film: Ceres
Bester Dokumentarfilm Politik/ Gesellschaft: The Silence of Others
Schlechtester Dokumentarfilm Politik/ Gesellschaft: Eldorado
Bester Spielfilm Politik/ Gesellschaft: Black 47
Schlechtester Spielfilm Politik/ Gesellschaft: Transit
Visuell herausragendster Film: Aga
Visuell unterirdischster Film: The Real Estate
„Get out of my competition!“-Award (Film, der am wenigsten in den Wettbewerb gehört): Unsane
„Can I take you home?“-Award (liebeswertestes Individuum auf der Leinwand): Daisy aka „Butterscotch“ in Damsel
„Leave that book alone!“-Award (schlechteste Adaption Roman/ Sachbuch/ Biografie): Transit
Bärendienst (gut gemeint, schlecht gemacht): The Happy Prince
Equal-Rights-Rating (0 - 10): 2 (Frauenanteil Wettbewerb: 21,05 %)
Berlinale-Taschen Rating (0 – 10): 6.5
Dümmstes Merchandise: Berlinale Weinbox mit Weinen aus deutschen Weinregionen im exklusiven Berlinale-Träger
Das Festival aus Pressesicht in einem Filmzitat: „Stressed out is my normal nature.“ (Hasan Majuni in Khook)
*Film nicht gesichtet, aber Jury-Entschluss wirkt überzeugend