Das Festival selbst feierte seine 77. Ausgabe erwartungsgemäß euphorisch als „Anbruch einer neuen Ära“. Dabei zeugte das polarisierte Programm mehr vom sturen Aufbäumen der alten gegen innovative Impulse. Letzte zeigen sich am markantesten in vielen Werken, die bei der Verleihung leer ausgingen. So erhielt Mar Colls desillusionierte Dekonstruktion des matrimanischen Mythos Salve Maria nur eine lobende Erwähnung, hingegen erhielten Laurynas Bareišas Drowning Dry, Klaudia Reynickes Reinas, Gaucho Gaucho von by Michael Dweck und Gregory Kershaw mit ihren patriarchalischen Familien- und Rollenbildern jeweils Hauptpreise. Deren wichtigster ging in Gestalt des Goldenen Leoparden an Saulė Bliuvaitės Toxic.
Eine voyeuristische Verklärung konservativer Körpernormen und patriarchalischer Pathologisierung weiblicher Physis und Psyche, deren Prämierung angesichts der stilistischen und ideologischen Nähe zu Club Zero, dem letzten Film von Jury Präsidentin Jessica Hausner, wie eine bizarre Mischung von Narzissmus und Nepotismus wirkt. Vor diesem Hintergrund ergibt es Sinn, dass Bálint Szimlers pointierte Kritik konditionierten Konformismus Lesson Learned mit einer lobenden Erwähnung und dem Schauspielpreis in der Nebensektion Filmmakers of the Present abgespeist wurde. Dieser reaktionären Richtung entgegen stand dafür der Special Jury Prize für Kurdwin Ayubs soziologisch provokantes, visuell progressives Drama Mond.
Für dessen Auszeichnung neben kleineren Preisen für Denise Fernandes Hanami und Sylvie Ballyots Green Line klopfte sich der künstlerische Leiter Giona A. Nazzaro mit einem für eine ambivalente Preispolitik passend zwiespältigen Kommentar auf die Schulter für „the great attention our juries have paid to the most daring female auteurs“. Ein Kommentar, der genau das Gegenteil dessen aussagt, was er vermitteln soll. Weibliche Filmschaffende zu präsentieren und prämieren ist selbst in dem sich seiner Alternativität und Arthouse Affinität gegenüber Cannes oder Venedig rühmenden Locarno augenscheinlich keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas, für das man(n) besonderes Lob erwartet.
Doch Applaus fällt schwer, angesichts der doppeldeutigen Deklamation, die 77. Filmfestspiele von Locarno bestärkten, „sogar noch stärker die Zentralität weiblicher Stimmen im Gegenwartskino“. Nur verdeutlichen der Goldene Leopard für Bliuvaite als Vertreterin einer straighten repressiv reaktionären weißen Mittelschicht, der Wettbewerbs-Schauspielpreis für Kim Min-hee (By the Stream) als darstellerisches Medium eines angestaubten Altherren-Kinos und sogar der Laetitia Doschs Abschlussfilm Dog on Trial dass diese neuen Stimmen nur erwünscht sind, wenn sie die gleichen alten Werte artikulieren.