Von Lidanoir
Am signifikantesten war das, was sich nicht ereignete, auf der 77. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes, in dessen Vorlauf die Erwartungen bei Progressiven und Traditionalisten gleichermaßen hochgesteckt waren. Die einen warteten auf die angekündigte Publikation eines offenen Briefs, der die Namen prominenter sexualstraffälliger Täter aus der französischen Filmindustrie veröffentlichen sollte, sowie einen angedrohten Walk-Out des Festival-Personals angesichts der prekären Arbeitsbedingungen für Saisonarbeitende und Freelancer. Die anderen blickten hoffnungsvoll auf einen Wettbewerb der alten weißen Männer - Schrader, Sorrentino, Coppola, Cronenberg, Audiard - dessen notorisch niedriger Frauenanteil in diesem Jahr auf nur vier Regisseurinnen bei 22 In-Competition-Filmen gefallen war. Enttäuscht wurden beide Seiten.
So kam es nie zu der unter anderem im Le Figaro angekündigten Veröffentlichung der Namen sexuell übergriffiger Filmschaffender, die in der französischen Filmindustrie, Politik und in Cannes bekanntermaßen besonderen Rückhalt genießen. Bereits im letzten Jahr feierte Cannes Johnny Depp und #MeToo-Gegnerin Maïwenn auf dem Roten Teppich. Im Dezember bezog Präsident Emmanuel Macron öffentlich Stellung, indem er den sexueller Belästigung angeklagten Gerard Depardieu verteidigte. Der Schauspieler habe Frankreich „stolz gemacht“ (mit den perversen Übergriffen, derer ihn zahlreiche Frauen bezichtigten?) und sein Opfer einer „Männerjagd“. Dass Depardieu offenbar selbst auf die Jagd nach jungen weiblichen Opfern ging, stört den Staatschef scheinbar nicht.
Eine buchstäbliche Randveranstaltung war Judith Godrèches in letzter Sekunde dem Festival-Programm hinzugefügter Kurzfilm Moi Aussi. Dessen bescheidene Bühne für Frankreichs #MeToo-Bewegung wirkt repräsentativ für die dialektische Festival-Politik, die Kritik als Eigenwerbung inszeniert und inhaltlich ignoriert. Ähnlich traurig symbolisch wehte das von Mitgliedern des Kollektivs prekärer Filmfestival Arbeitender (Le Collectif des précaires des festivals de cinéma) auf dem Grand Théâtre Lumière während der Eröffnungszeremonie entrollte Banner. „Sous les écrans la dèche“ (Müll unter der Leinwand) stand darauf, verschwindend klein vor dem gewaltigen Festivalplakat. Nichts mit Streik. Bittere Realität ist, dass die Zustände, die den Streik motivieren, instrumental in dessen Unterdrückung sind.
Dabei hätte ein Streik beispielhaft sein können. Nicht nur für das Personal. In Cannes ist bereits als demographisch eine Hochburg des Elitarismus und Klassismus. Doch statt die Filmfestspiele als Chance zu sehen, diese Strukturen aufzubrechen, werden sie stolz gepflegt. So schränkt ein Dresscode den Besuch abendlicher Premiere-Vorstellungen ein und die horrenden Aufenthaltskosten an der Croisette sorgen dafür, dass die Unterschicht bei der Presse praktisch nicht vertreten ist. Dass die Nicht-Repräsentation direkten Einfluss auf die Rezeption der Filme hat, zeigte sich deutlich an den (Presse)Publikumsreaktionen. In diesem Jahr etwa auf Agathe Riedingers Debütfilm Wild Diamond, dessen respektvoller Realismus irritiertes Schweigen erntete.
Andrea Arnolds märchenhafte Stereotypen in Bird hingegen wurden wohlig beklatscht. Diese Gefälligkeit war der überwiegende Eindruck eines unspektakulären Wettbewerbs. Künstlerische Überwältigungen blieben aus, empörende Tiefpunkte ebenfalls, skandalträchtige Ausreißer gab es schon gar nicht. Selbst Francis Ford CoppolasMegalopolis entpuppte sich als mega belanglos: Alles andere als gelungen, aber zu albern und altväterlich, um sich darüber aufzuregen. Sorrentino lechzte im altväterlich antiquierten Parthenope wiedermal nach jungen Frauen. Cronenberg sinnierte in The Shrouds über den Tod seiner Frau und physische Vergänglichkeit, Paul Schrader in Oh, Canada über die eigene Endlichkeit und Gilles Lellouche und Jacques Audiard lieferten sich eine kuriose Konkurrenz der Crime-Musicals.
Und die übrigen Filme, die laut Festival-Leiter Thierry Frémaux statt gesellschaftskritischer Stimmen sprechen sollten? Künstlerische Überwältigungen blieben aus, empörende Tiefpunkte und skandalträchtige Ausreißer ebenfalls. Jia Zhangkes episches Generationsbild Caught by the Tides etablierte sich als früher Favorit; Payal Kapadias melancholisches Millionenstadt-Bild All We Imagine As Light als später Konkurrent. Ein gewohnt hochkarätiges, unerwartet nervenaufreibendes Drama familiären Fundamentalismus lieferte mit The Seed of the Sacred FigMohammad Rasoulof. Seine Anwesenheit bei der Premiere war nach einer riskanten Flucht aus dem Iran, wo er als Regime-Kritiker zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, bis zuletzt ungewiss und wurde mit verdienter Begeisterung gewürdigt.
Die Goldene Palme vergab die von der stets den Tränen nahen Greta Gerwig angeleitete Jury Sean Bakers Crowd Pleaser Anora. Obwohl der bitter-süße Balanceakt zwischen Gesellschaftskritik und Humor, der von Kritik und Publikum gleichermaßen begeistert aufgenommen wurde, eine risikofreie Wahl ist, hat dessen humanistische Darstellung von Sexwork als legitimer Arbeit angesichts der gerade hierzulande alarmierend steigenden Repressalien, der aggressiven Stigmatisierung und drohenden (Re)Kriminalisierung von Sexwork durchaus politisches Gewicht. Bakers Widmung der Goldenen Palme „to all sexworkers“ war ein weiterer weniger prägnanter Momente, in denen das traditionell konservative bis reaktionäre Festival unvermittelt zeigte, wie eine tolerante und ethische Zukunft aussehen könnte.