Als Sohn eines lutherischen Pastors verbirgt sich in „Das Schweigen“ selbstverständlich auch eine immanent persönliche Note des Regisseurs und Drehbuchautors Ingmar Bergman („Schreie und Flüstern“). In seiner Kindheit von protestantischen Dogmen regelrecht umzirkelt gewesen, lassen sich seine Filme auch immer als psychoanalytische Spiegelung seines Innenlebens verstehen, welches durch eine streng religiöse Erziehung (Züchtigungen mit dem Rohrstock waren Gang und Gäbe) sozialisiert wurde. In „Das Schweigen“ aber thematisiert Ingmar Bergman nicht nur seine komplexe Beziehung zur Religion, vielmehr porträtiert er eine (Nicht-)Welt, in der die autoritären Vaterfiguren verstummt sind. Ester (Ingrid Thulin, „Die Verdammten“), Anna (Gunnel Lindblom, „Die Jungfrauenquelle“) und ihr Sohn Johan (Jörgen Lindström) machen sich auf den Weg in die schwedische Heimat, die Luft steht regelrecht, die Schweißtropfen sammeln sich voluminös im Gesicht der Frauen, der Blick aus den Fenstern des Zugabteils verweist auf eine unwirtliche Gegend, die schon bald zum Kriegsgebiet erklärt werden kann – Ein schier endloser Güterzug ist vollbeladen mit Panzern.
Man möchte es beinahe schon absehbar bezeichnen, doch der Umstand, dass Ester der genaue Widerpart von Anna ist und umkehrt, ist von elementarer Bedeutsamkeit für den Tiefgang des Filmes. Ester nämlich nimmt in „Das Schweigen“ die – orientieren wir uns am Strukturmodell der Psyche von Sigmund Freud – Position des Über-Ichs ein und zeichnet sich durch ein rigorose moralische Instanz aus, die immer fest an ihre profunde Gottesfürchtigkeit geknüpft war. Anna hingegen symbolisiert das Es und zeigt sich einer sündhaften Sinnlichkeit bereit, der Ester nur mit Ekel begegnen kann – und doch sind die Schwestern vollkommen voneinander abhängig. Sexualität ist in „Das Schweigen“ eine Art Leitmotiv und niemals als unbeschwerte Luftbefriedigung codiert, sondern vielmehr ein Machtgegenstand, mit dem Anna ihre intellektuell überlegene Schwester in die Schranken weisen kann. Die Sexualität, mit der Anna schon beinahe hausieren geht, artikuliert sich als eine Art Trotzverhalten und resultiert letztlich nur aus dem Fakt, dass die beiden Frauen sich wie aufgeschlagene Bücher gegenübertreten, aber nicht in der Verfassung sind, in einen gesunden, konstruktiven Dialog miteinander zu treten.
Seitdem der (leibliche) Vater von Ester und Anna verstorben ist, hat Ester jeden Lebenssinn in ihrer Existenz verloren, ihrer Arbeit als Übersetzerin scheint sie keinerlei Mehrwert mehr beimessen zu können, stattdessen ist mit dem Tod ihres Erzeugers auch ihr Gott verstummt, was ihr die Chance auf Vergebung negiert – Sie bekommt schlichtweg keine Antworten mehr. Anna versucht sich mit der Freilegung ihrer animalischen Impulse von Gott (und ihrem Vater) zu emanzipieren, muss aber scheitern, weil sie Zeit ihres Lebens in ihrer Schwester die Zuneigung gesucht hat, die sie von ihrem Vater (und damit auch Gott) schmerzhaft vermissen musste. In dem feingliedrigen Modus, in dem „Das Schweigen“ die emotionale Verflochtenheit der beiden Frauen dokumentiert, wird genau das titelgebende Schweigen zur deutlichsten Sprache: Das Schweigen nämlich ist Verachtung, Verurteilung, Demütigung, aber niemals vollständiges Auflösen, denn Schweigen bedeutet niemals Sterben. Die Kameraarbeit von Sven Nykvist saugt sich an den Körperpartien, den Regungen und Ausdrücken in den Gesichtslandschaften der Frauen fest, rekapituliert, observiert, analysiert und stellt sie dementsprechend als Interpretationsplattform für den Zuschauer frei.
In „Das Schweigen“ scheint eine emotionale Impotenz, eine existentielle Verzweiflung durch den verschwommenen Raum zu mäandern, die immerzu von den Entdeckungsreisen des kleinen Johans konterkariert werden: Seine Streifzüge durch die ewigen Korridore des herrschaftlichen Hotels sind es, die hier Hoffnung verlauten lassen, weil Johan noch in einer kindlichen Phase verkehrt, in der er unvoreingenommen auf seine Mutter und Tante blicken kann – und dort Worte findet, wo sich zwei Frauen unlängst in den Hass geschwiegen haben, einfach weil sie sich so zwanghaft lieben wollten, weil das Mentale (Ester) ohne den Körper (Anna) nicht bestehen kann und deswegen auch brachial gebrochen wurde. Dass es mit Sicherheit Zuschauer gibt, sie sich auf „Das Schweigen“ nicht einlassen können, ist bei der fundamentalen Schwere des Sujets nicht unverständlich, wenn man allerdings mit einem Funken Cineastik gesegnet wurde, muss man „Das Schweigen“ aufgrund seiner kinematographischen Qualitäten dennoch fasziniert entgegensehen. Das kontrastreiche Schwarz-Weiß, die langen Schlagschatten, die Gesichter verschlingen und ebenso reinkarnieren, verkünden eine genuine Filmästhetik, zu der nur die Speerspitze der Branche in der Kondition gewesen ist.