Manchmal braucht es einen Regisseur wie den Chilenen Alejandro Jodorowsky (Santa Sangre), der die Kühnheit, den Impetus und die entsprechende Dosis bewusstseinserweiternden Psychopharmaka in der Blutbahn aufbringt, das Kino in seinen nomierten Gesetzmäßigkeiten zu zerstören, um es neu zu erschaffen. Nachdem er mit seinem Acid-Western El Topo im Jahre 1970 bereits das Mitternachtskino definierte und heutige Filmemacher wie Nicolas Winding Refn (Only God Forgives), Gaspar Noé (Irreversibel) und Panos Cosmatos (Mandy) nachhaltig prägte, ging Jodorowsky mit Montana Sacra – Der heilige Berg noch einen Schritt weiter: Das Lichtspielhaus, sein Mythos, seine Mechanismen, seine illusorischen Trugbilder sitzen gewissermaßen auf der Anklagebank, wenn der inzwischen fast 90-jährige Filmemacher die Grenzen des Abbildbaren im einem meta-reflektorischen Diskurs über Schein und Sein, Körper und Geist auslotet.
Müßig an dieser Stelle scheint die Bestätigung, dass es sich nicht lohnt, den stofflichen Inhalt von Montana Sacra – Der heilige Berg zu fassen zu bekommen. Alejandro Jodorowsky ist kein Geschichtenerzähler im klassischen Sinne, sondern vielmehr ein audiovisueller Phantast, dessen mit 1,5 Millionen Dollar des ehemaligen Beatles-Managers Allen Klein bezuschusster Gestaltungswille jede Form von kinematographischer Gepflogenheit demontiert. Jodorowsky, der den Film fortwährend im LSD-Rausch inszeniert hat, halluziniert einen gleichermaßen sonderbaren wie hochgradig faszinierenden Trip in die Grenzregionen der Wahrnehmung und bannt Bildwelten auf die Leinwand, die originär, wuchtig, erschlagend, memorabel, unsterblich sind. So unsterblich, wie das Thema des Filmes: Die Suche des Menschen nach der Unsterblichkeit. Für Jodorwsky eine haarsträubend kreative, verstörende sinnliche und widerwärtig archaische Reise, die in der Wirklichkeit endet.
In der Tradition des filmischen Surrealismus, dem beispielsweise ein Name wie Luis Bunuel (Der Würgeengel) vorausgeht, entfesselt Alejandro Jodorowsky eine schöpferische Sprengkraft singulärer Natur und begleitet, nein, überfrachtet seine Aufnahmen mit Symbolik, Metaphern und Allegorien, dass Montana Sacra – Der heilige Berg oftmals wie ein interdimensionaler Rundumschlag wirkt, der in die Offensive mit Kultur, Religion, Gesellschaft, Massenmedien und Moral geht. Wo Frösche und Eidechsen historische Schlachten nachstellen, wo aus Einschusslöchern Spatzen und Früchte emporsteigen, wo Christus als Dutzendware zu verkaufen ist und wo, ganz wortwörtlich, aus Scheiße Gold gemacht wird. Montana Sacra – Der heilige Berg ist das Werk eines Künstlers, der den Kontrollverlust liebt; der es liebt, das Abwegige, Hässliche, Beunruhigende soweit zu stimulieren, bis es zu einer eigenen Kunstform wird. Bis Blut eine neue Farbe gewinnt.
Alejandro Jodorowsky, ein Mann, der sein ganz eigenes Mysterium geworden ist; der seine ganz eigene Mythologie erlangt hat, gelingt es in diesem Bildsturm des Entarteten und Poetischen aber tatsächlich nicht nur formalistische Experimentalgeschichte zu schreiben, in der ätherischen Überstättigung sensorischer Reize beschreibt Jodorowsky mehr und mehr die sich anbahnende kulturelle Apokalypse. Die Odyssee auf die Lotusinsel, dort, wo der heilige Berg bis in den Himmel gewachsen ist, wartet auf den geheimisvollen Alchemisten (Jodorowsky selbst) und seine acht weiteren Gefährten eine Konfrontation mit der Wirklichkeit. Abseits der grenzgenialen Ausstattungsmanie, seiner Exzentrik und Exotik, seinem Sturzflug in die Schluchten psychotroper Raserei, ist Montana Sacra – Der heilige Berg letztlich auch ein Film, der an das Aufwachen appelliert. Das Hinsehen, das Attackieren, das Entlarven. Ein albernes, geschmackloses, urgewaltiges und wunderschönes Märchen.