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Biennale di Venezia 2023: Ein Eröffnungsbericht

von Patrick Fey

Wenn die Mostra von Venedig – das älteste Film-Festival der Welt, bei dem die mitunter meisterwarteten Filme der Saison Premiere feiern – ihr 80. Jubiläum begeht, dürfte das Star-Aufgebot ein wenig lichter daherkommen als in sonstigen Jahren. Auch hierzulande, wenngleich nur im entferntesten Sinne betroffen, wurde vom Streik der Hollywood-Gewerkschaften WGA und SAG-AFTRA berichtet, währenddessen es den Drehbuchautor*innen und Darsteller*innen untersagt ist, aktuell anlaufende Film- und Serien-Projekte zu bewerben. Seit dem 2. Mai befinden sich die Drehbuchschreiber*innen im Streik, dem sich im Juli die gewerkschaftlich organisierten Schauspieler*innen anschlossen – eine Union, die es auf diese Weise seit 1960 nicht gegeben hat. Für die Leitung der Filmfestspiele von Venedig kommt dieser Streik zur Unzeit, lebt die von der Festivalleitung um Alberto Barbera kuratierte Mostra doch – weit mehr noch als Cannes und Berlin – vom Glanz der Hollywoodstars, für die eine erfolgreiche Premiere auf dem Lido den Startschuss ihrer Oscar-Kampagnen bildet. Kapriziert sich Cannes dahingehend insbesondere auf die besten internationalen Titel des Jahres, gilt Venedig insbesondere seit der Premiere von Alfonso Cuaróns Gravity 2013 als wichtiger Indikator für die Award-Season. Im letzten Jahr waren es etwa Filme wie Martin McDonaughs The Banshees of Inisherin, Darren Aronofskys The Whale oder Todd Fields Tár, die über Monate hinweg die Oscar-Spekulationen dominierten, wenngleich sich letztlich alle der unerwarteten Übermacht der Daniels und ihrem A24-produzierten Multiversums-Wahnsinn Everything Everywhere All at Once geschlagen geben mussten.

Wenn nun also einige Stars auf dem Lido ausbleiben und die Filme einzig durch ihre Regisseur*innen beworben werden dürfen (die Directors‘ Guild of America (DGA) beteiligt sich, zum Unmut einiger, nicht an den Streiks), so erschwert dies die Sichtbarkeit der Projekte ungemein. Bradley Coopers Maestro stellt wohl die prominenteste Leerstelle der diesjährigen Biennale dar, hat Cooper, der sowohl Regisseur als auch Hauptdarsteller in seinem Nachfolgeprojekt zu A Star Is Born ist, der Festivalleitung unter großem Bedauern, aber in größter Solidarität mit den Streikenden, bereits mitgeteilt. Es ist allerdings zu erwarten, dass der durch die Produktionsfirmen Martin Scorseses und Steven Spielbergs unterstützte Maestro sich als „too big to fail“ erweisen wird.

Ein gutes Beispiel für die durch den Streik erschwerten Bedingungen ist indes Universals kürzlich in den USA angelaufener Animationsfilm Strays, unter anderem mit den Stimmen Jamie Foxx‘ und Will Ferrels, der (und hier betreten wir den Bereich der Spekulation) vermutlich auch dadurch am Box Office unterging, weil auf öffentlichkeitswirksame Auftritte der Darsteller*innen in den gängigen Late-Night-Shows verzichtet werden musste. Insbesondere in Zeiten, da wiederholt die Frage aufgeworfen wird, ob es noch echte Filmstars gebe, wird es interessant zu sehen,  inwieweit jene Filme der Festivaltour, die sich naturgemäß unweit stärker nach ihrem Publikum umsehen müssen, von der Aussetzung der Starbewerbung betroffen sind. Dass man bei den Studios dahingehend nur bedingt zuversichtlich ist, zeigt sich daran, dass im Vorfeld von Venedig gehäuft um sogenannte „waivers“, also Ausnahmen vom streikbedingten Werbeverbot, gebeten wurde. Es ist eine von Widersprüchen gezeichnete Situation, in der die Streikenden einerseits die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens unter Beweis stellen wollen, andererseits aber auch in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Erfolg ihrer Projekte stehen.

Einigen der größten Titel der diesjährigen Biennale sind solche Ausnahmen bereits bewilligt worden: Sofia Coppolas in Europa durch Mubi vertriebener Priscilla etwa, der, wenn nicht ein Gegennarrativ zu Baz Luhrmans Elvis bildend, doch unvermeidlich gemeinsam mit diesem gesehen werden muss. Bei aller Kritik, die dem Biopic als Genre allzu oft ob seiner Formelhaftigkeit zukommt, sollte es doch in jedem Fall misstrauisch machen, wenn sich direkte Familienangehörige bei den Filmemacher*innen für die authentische Darstellung der ihr geliebten Angehörigen bedanken — umso mehr, wenn es sich um eine so glorifizierte Person(a) wie Elvis Presley handelt. Wenn sich also dessen Tochter Lisa Marie auf diese Weise öffentlichkeitswirksam via Instagram an Luhrmann richtet, lässt sich darin gleichsam die Leerstelle ausmachen, der sich — davon ist angesichts des Titels auszugehen – Sofia Coppola weitaus kritischer nähern wird. Basierend auf Priscilla Presleys Buch Elvis and Me aus dem Jahr 1985 trägt Coppolas Film, der, wie im Vorfeld zu vernehmen war, ohne Autorisierung der Presley-Familie auskommt, den Namen der Ehefrau des sogenannten King of Rock ‘n Roll, die zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens gerade 14 war.

Ein weiterer — der vermutlich namhafteste — Titel im Wettbewerb der 80. Mostra ist Michael Manns Ferrari. Den realen Enzo Ferrari spielend, zieht es Adam Driver nach Noah Baumbachs Marriage Story (2019) und dessen Nachfolgeprojekt White Noise aus dem Vorjahr sowie Ridley Scotts The Last Duel (2021) erneut zur jährlichen Filmpremiere in der italienischen Lagunenstadt. Nachdem Driver als Maurizio Gucci für Scotts House of Gucci bereits einen geschichtsträchtigen italienischen Geschäftsmann spielte, setzt sich diese Konstellation mit der Rolle des Enzo Ferrari fort. Was Priscilla für Elvis ist, könnte Ferrari für Ford v Ferrari sein, schließlich kaprizierte sich James Mangold in seiner historisch verbürgten Erfolgsgeschichte des ikonischsten aller amerikanischen Autohersteller, dem es 1966 beim Rennen von Le Mens wider aller Erwartung gelungen war, gegen die scheinbar übermächtige Scuderia Ferrari zu gewinnen. Basierend auf der Biographie Enzo Ferrari: The Man and the Machine des Sportjournalisten Brock Yates, die 1991 erschien, nimmt sich somit auch Manns Ferrari ein Buch zur Vorlage.

Während also Cast und Crew um Ferrari und Priscilla sich den Streikauflagen entziehen dürfen, entzieht sich Venedigs Festivalleitung um Barbera der Forderung vieler, dem in den USA aufgrund einer gestandenen Vergewaltigung verurteilten Roman Polanski keine Bühne für seine Filme zu geben. Präsident Barbera erkennt in dem Polen, wie er jüngst noch einmal im Guardian zu Protokoll gab, einen der letzten großen europäischen Autorenfilmer, und in sich selbst vor allem einen Filmkritiker, dessen Aufgabe es sei, das Werk vom Autor zu trennen. Gut in Erinnerung dürfte vielen noch Polanskis Auszeichnung beim Europäischen Filmpreis für seinen letzten Film J'Accuse sein, die Wellen der Entrüstung nach sich gezogen hatte.

Mit Luc Bessons Wettbewerbsbeitrag Dogman und Woody Allens außer Konkurrenz laufender französischer Komödie Coup de chance finden sich überdies zwei weitere Filmemacher mit einer komplizierten Reputation, die allerdings – und diese Unterscheidung sollte nicht verwässert werden – vor keinem Gericht schuldig gesprochen wurden. Bietet Venedig auch das Sprungbrett für zahlreiche Oscarkampagnen, zeigt sich in der Auswahl dieser Titel eindeutig, dass es sich noch immer um ein europäisches Film-Festival handelt, schließlich fände sich in den USA derzeit wohl kein Verleih, der aktuelle Filme dieser Regisseure in die (Heim-)Kinos bringen würde.

Ganz gegenteilig dazu bietet die diesjährige Mostra allerhand weitere große Titel, die den Film-Diskurs der nächsten Monate maßgeblich mitbestimmen werden. Yorgos LanthimosPoor Things etwa, der Adaption Alasdair Grays gleichnamigen Roman, für das Lanthimos nach The Favourite nicht nur abermals Emma Stone für die Hauptrolle gewinnen konnte, sondern überdies Mark Ruffalo und Willem Dafoe im illustren Cast versammelt. Im gleichen Atemzug ist auch David Fincher zu nennen, dessen The Killer eine Rückkehr zum Thriller-Genre à la Zodiac oder Se7en verspricht und zudem seine langjährige Zusammenarbeit mit Netflix (Mank; Mindhunter) fortsetzt.

Ebenfalls im Blick zu behalten gilt Ava DuVernay, die sich dezidiert seit ihrem zweiten Spielfilm, Middle of Nowhere aus dem Jahr 2012, mit dem systemischen Unrecht in der amerikanischen Gesellschaft auseinandersetzt und deren Biopic Selma über die durch Martin Luther King angeführten Proteste für Gleichbehandlung vor dem Gesetz und faire Wahlen. Ihr neuer Film Origin kapriziert sich wieder auf eine bedeutende gesellschaftspolitische Person der jüngeren amerikanischen Geschichte, der Journalistin Isabel Wilkerson.

International stechen besonders der neue Titel des japanischen Auteurs Ryusuke Hamaguchi – Evil Does Not Exist und Bertrand Bonellos La bête heraus. Hamaguchi, der im Jahr 2021 mit Wheel of Fortune and Fantasy auf der (online-)Berlinale und Drive My Car – letzter gewann 2022 den Oscar als bester fremdsprachiger Film – gleich doppelt auf sich aufmerksam machte, hat mit der Ankündigung seines neuen Films so einige überrascht.

Was die Repräsentation des deutschen Kinos angeht, so fällt es schwer sich zu beschweren. Nachdem Fatih Akins im letzten Jahr eingereichter Film Rheingold von der Festivalleitung offiziell abgelehnt wurde, ist Deutschland dieses Jahr in gleich zwei Sektionen vertreten. So findet sich in der parallel zum Festival laufenden unabhängigen Sparte Settimana internazionale delle critica das Langfilmdebüt von Julia Fuhr Mann Das Leben ist kein Wettbewerb, aber ich gewinne trotzdem, welcher die Exklusion von Trans*- und non-binären Athlet*Innen aus der Sportwelt offen anspricht und entschlossen bekämpft. Deutlich mehr Aufmerksamkeit dürfte jedoch dem zweiten Regieouting von Timm Kröger (Zerrumpelt Herz) zukommen: Krögers Die Theorie von Allem, ein in schwarz-weiß gehaltener Mystery-Thriller um eine Reihe von Mordfällen während eines Quantenmechanik-Kongresses in den Schweizer Alpen, hat es in den internationalen Wettbewerb geschafft. Ebenfalls im Wettbewerb vertreten ist Franz Rogowski, wenn auch nicht in einem Film aus dem Heimatland. Der von internationalen Regisseur*Innen scheinbar permanent ausgebuchte Schauspieler spielt die Hauptrolle in Giorgio Dirittis Historienfilm Lubo, welcher die Verfolgung der Sinti und Roma in der Schweiz der 30er Jahre verhandelt.

Unter eher traurigen Umständen findet auch sich eine Regielegende auf den Festspielen ein: Mit dem außer Konkurrenz laufenden The Caine Mutiny Court-Material wird der letzte Film des kürzlich verstorbenen Kultregisseurs William Friedkin präsentiert. Ganz im Zeichen seines Mantras „I tend to be attracted to characters who are up against a wall with very few alternatives” adaptiert Friedkin den Romans von Herman Wouk um einen der Meuterei beschuldigten  Marine-Offizier, der seine Kollegen aus den Klauen eines willkürlich und gefährdend agierenden Kapitäns retten wollte. Das Festival ehrt die Ikone des New Hollywood Friedkin zudem mit einer Restauration seines Kult-Horrorfilmes The Exorcist

Ein weiteres Urgestein des Kinos findet sich ebenfalls in der Out of Competition-Sektion: Nachdem er sich im letztjährigen Wettbewerb mit seinem experimentellen Ehedrama Un Couple im eher ungewohnten kurzweiligen Spielfilm-Modus befand, schaltet der inzwischen 93-Jahre alte Frederick Wiseman wieder in den Gang des überlangen Dokumentarfilmes. Inspiriert von einem famosen Mittagessen im Sommer 2020 fragte Wiseman spontan den Chefkoch der Troisgros-Restaurants, einer der umjubelsten  und ältesten (lustigerweise genauso alt ist wie Wiseman selbst), über inziwschen vier Generationen der Troigros-Familie weitergegebenen, Restaurantketten in Frankreich, ob er einen Film über seinen kulinarischen Betrieb drehen dürfte: Menus Plaisirs – Les Troisgros dokumentiert 240 Minuten lang die Arbeit, die in die Zubereitung der exquisiten Speisen geht, mit einem besonderen Augenmerk auf den Anspruch  des Familienunternehmens auf Nachhaltigkeit. Bon Apétit!

Wie uns das alles gefällt, darüber halten wir -- das sind Patrick, Jakob und Lida -- euch während der kommenden 12 Tage auf dem Laufenden - in Form von Kritiken, aber auch durch mehrere Podcasts. Stay tuned!

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