Bildnachweis: © Elisabeth Nagy

Berlinale 2022

von Lida Bach

Bevor sie richtig angefangen hatte, war sie schon wieder vorbei: die 72. Berlinale, die sich ein Bisschen anfühlte, als wäre es die 71. Ausgabe, die nicht wirklich stattfand. Netflixen und ein paar Freilichtvorführungen sind so wenig Festival wie ein Screensaver mit Bäumen ein Waldspaziergang ist. Dass eine Wiederholung die Berlinale dauerhaft aus der A-Kategorie der internationalen Filmfestivals stoßen könnte, schien der Festivalleitung bewusst. So gab es ein Event mit so umfangreiche Hygienevorschriften und Ausschlusskriterien, dass neben einem Großteil des Publikums leider auch die Mehrheit der Filmschaffenden ausblieb, und die Adhäsionskraft von Kunst und Kultur kaum ihre Wirkung entfalten konnte. 

Das Geoblocking vergangenen Jahres fand seine reale Entsprechung im Ausschluss aller ohne EU-anerkannten Impfnachweis, also auch jener, die sich gemäß Vorgaben und Möglichkeiten des Heimatlandes impfen ließen. Die automatische Platzvergabe wurde für Menschen mit Seh- oder Gehbehinderung problematisch und erwies sich gar als kontraproduktiv: Statt großzügig verteilt saß das Publikum geballt, da die Sitze der Reihe nach vergeben wurden. Mehrere Stunden mit FFP2-Maske wurden vielen zu anstrengend, um mehr als eine Vorstellung zu besuchen. Mit der steigenden Armut werden zudem die horrenden Ticket-Preise ein einschneidenderer Faktor. Berlinale Goes Kiez ändert wenig an der Ausrichtung auf einen wohlhabenden bürgerlichen Klientel. 

Das spiegelte eine gefällige statt spannende Filmauswahl geprägt von (neo-)konservativer Nostalgie und die als Altmeister hofierte Riege der alljährlich wiederkehrenden Filmschaffenden. Ihre Dauerpräsenz erinnert daran, dass die vergleichsweise hohe Präsenz von Künstlerinnen im Wettbewerb und bei der Preisvergabe noch lange keine Trendwende markiert. Dennoch zeigt dieser positive Wandel das Potenzial der Berlinale: in diesem Jahr ein halbes, aber immerhin wirkliches Festival. Der Entschluss für das Festival sendet hoffentlich ein Signal für den Erhalt von Kunst und Kultur, nicht trotz, sondern gerade für diese Zeit. Kultur und Kunst sind die Brücke, die gesellschaftliche Gräben überwinden kann. Aber eine Gesellschaft kann nur zusammenfinden, wenn sie zusammenkommt. 

Die 72. Berlinale hat daran erinnert, wie entscheidend der zwischenmenschliche und kollegiale Austausch ist und wie bitter die Menschenmengen aus aller Welt fehlen. Kunst und Kollektivität - wenn sie denn zugänglich sind - sind die Basis für Empathie, Umdenken und Toleranz. Festivals, ob für Film, Literatur, Musik oder Theater, schaffen ein Miteinander, das nicht nur Grundlage für Gemeinschaft ist, sondern für Gemeinsinn. Wenn es nächstes Jahr eines braucht, dann mehr von allem, was dieses Jahr kaum oder nicht da war. Mehr Berlinale

Persönliche Preisvergabe:

Bester Film: Return to Dust

Beste Regie: Robe of Gems

Silberner Bär Großer Preis der Jury: Nana

Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle: Emma Thompson in Good Luck to You, Leo Grande

Silberner Bär Herausragende Künstlerische Leistung: Ricky Lionardis Musik für Nana

Bester Erstlingsfilm: No Simple Way Home

Bestes Drehbuch: Apartment with two Women

Bester Dokumentarfilm: Nelly & Nadine

Schlechtester Dokumentarfilm: Super Natural

Naturfreundlichster Film: Geographies of Solitude 

Naturfeindlichster Film: Alcarràs

Bester Dokumentarfilm Politik/ Gesellschaft: Boney Piles

Schlechtester Dokumentarfilm Politik/ Gesellschaft: The Veteran

Bester Spielfilm Politik/ Gesellschaft: Gangubai Kathiawandi

Schlechtester Spielfilm Politik/ Gesellschaft: Nobody’s Hero

Visuell herausragendster Film: A Story for 2 Trumpets

Visuell unterirdischster Film: Grand Jeté

„Get out of my competition!“-Award: A E I O U - Das schnelle Alphabet der Liebe

„Can I take you home?“-Award: Husky Bjorn aus Against the Ice

„Leave that book alone!“-Award: Keiner, aber bitte nicht noch mehr Pirandello!

Bärendienst: Kalle Kosmonaut

Equal-Rights-Rating: 8/10 (44%)

Berlinale-Taschen Rating: 7/10 (Bauchtasche - voll 90er! Geil.)

Dümmstes Merchandise: Die plüschige Berlinale-Bären-Schlafmaske, die das Einnicken im Kino erleichtert. 

Das Festival aus Pressesicht in einem Filmzitat: „Drink some more. Write some more.“ (The Novelist's Film)

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