Die einen schauen selten Stummfilme, die anderen nie. Dabei ist das frühe Kino eine Fundgrube cineastischer Schätze, die eine einzigartige Welt der kreativen Innovation eröffnen. Die frühen Schrecken der Leinwand sind oft im wörtlichen Sinne stiller Natur, entsprungen einer unheimlichen Stimmung und sinisteren Suggestionen, die oft länger nachwirkt als mancher Tonfilme. Enjoy the silence!
Die italienische Literaturverfilmung wagt sich immer weiter in die finstersten Abgründe von Dantes Unterwelt. Frühe Tricktechnik und imposante Szenerien schaffen eine Unterwelt voller verlorener Seelen und bizarrer Foltern. Ein surreales Road Movie durch den Kopf Gustave Dores, dessen Illustrationen die sadistisch-orgiastischen Settings inspirierten.
Body-Horror und Psychoterror kommen in dem makaberen Gruselthriller buchstäblich Hand in Hand. Ein Pianist fühlt sich vom Geist eines Mörders besessen, dessen „Tatwerkzeuge“ ihm nach einer Amputation transplantiert wurden. Ein weiterer Auftritt des wunderbaren Conrad Veidt, der dem frühen Genrekino zu künsterlischen Höhenflügen verhalf.
Die bühnenhafte Inszenierung beschwört das klassische Motiv des Doppelgängers, der den unglückseligen Protagonisten verfolgt. Wenn auch das Geistermärchen nicht mehr gruselt, das Schlussbild ist eine verdammt unangenehme Vorstellung, die alles zuvor Gesehene im Nachhinein weit beunruhigender erscheinen lässt. Das Remake von 1926 fesselt ebenfalls.
Conrad Veidt verkörpert mit dem von Victor Hugo erschaffenen Gwynplaine den ersten verstörenden Clown des Kinos. Das Lächeln wurde dem tragischen Protagonisten als Kind ins Gesicht geritzt und erregt bei Schaulustigen unweigerlich Spott und Abscheu. Fun Fact: Bob Kane schuf nach Veidts Make-up den Joker.
Der Meister des Karnevalesken lädt das Publikum zu einer pathologischen Horrorshow, die mehr wagt, als es heute viele Filme tun. Ein Zirkusmesserwerfer mit einem Extra-Daumen lässt sich aus irriger Hoffnung die Arme amputieren und plant blutrünstige Rache. Was hätte Freud dazu gesagt?
Jump Scares im Stummfilm? Der Moment, als der Titelcharakter seine Fratze zeigt, ist einer der furiosesten der Kinogeschichte. Die kongeniale Adaption des Schauerromans hat alles: Drama! Action! Verbotene Liebe! Ein charismatischer Schurke! Spektakuläre Kulissen! Sensationelle Special Effekts (eine Szene in Farbe)! Und vor allem: Lon Chaney!
Das jüdische Mythenwesen trägt die melancholischen Züge zahlloser Homunkuli, die nach ihm die Leinwand heimsuchten. Aus heutiger Sicht sind die gespenstischen Momente nicht die Erschaffung der Kreatur, sondern ihr trauriges Ende und der Pogrom, den ihr Schöpfer abwenden will.
Jean Epsteins impressionistische Phantasmagorie ist die bisher einzige Verfilmungvon Poes Kurzgeschichten, deren spukhafte Bilder die pathologischen Ängste und morbiden Fantasien des Schriftstellers wiedergeben. Ein Film wie ein bodenloser See, in dem man langsam ertrinkt.
Murnau verwebt seine inoffizielle Interpretation von Stokers Dracula mit osteuropäischer Folklore zu einem dunklen Poem, dessen Todesmetaphern und unheilvolle Atmosphäre zeitlos-beklemmend sind. Theatermime Max Schreck wurde in der Titelrolle zur Horrorikone, der zahlreiche Filme ihre Referenz erweisen.
Beängstigender als alle Fabelkreaturen sind die realen Schrecken geistiger Umnachtung und der Gefangenschaft in einer Irrenanstalt. Das ambivalente Ende impliziert den Triumph des Bösen und wirkt wie eine unbewusste Vorahnung der menschlichen Monster, die den Klassiker auf der berüchtigten Ausstellung „Entartete Kunst“ diffamierten.