Es gleicht einer Herkulesaufgabe, dem Kino Ryûsuke Hamaguchis (Happy Hour) durch Beschreibungen allein gerecht zu werden, beinahe so, als wolle man Franz Liszts Liebestraum in Worte zu übersetzen suchen. Immer wieder schießt einem dieses Hochgefühl in den Sinn, und es scheint, man habe nun endlich den Schlüssel gefunden, um die Essenz dessen fassbar zu machen, was bisher nur als schnöder Rauch durch unsere Leben zog, omnipräsent und doch nicht greifbar. Was umso bemerkenswerter ist, wenn man berücksichtigt, wie viel in diesen Filmen geredet wird. Doch Dialoge in Hamaguchi-Filmen sind anders, sie leben zu gleichen Maßen davon, was gesagt wird, wie davon, was ausgelassen wird, sich einzig durch sehnsuchtsvolle Blicke und sanfte Piano-Klänge ausdrückt. Diese Aussparungen gehören ihren Figuren ebenso wie ihre Worte. So war es bereits in Hamaguchis Aoko I & II zu erleben, der 2018 in Cannes Premiere feierte und mit der eponymen Aoko eine Protagonistin ins Zentrum stellte, die über Jahre hinweg an ihrer verschwundenen Jugendliebe festhält.
Die Poesie des Zufalls
Angelegt als erste drei Episoden einer siebenteiligen Reflexion über „den Zufall und die Vorstellungskraft“ erzählt Hamaguchi von drei unabhängigen Beziehungskonstellationen. Zum einen ist da Meiko (Kotone Furukawa), die auf einer Taxifahrt von ihrer besten Freundin Tsugumi (Hyunri, A Bride for Rip Van Winkle) erzählt bekommt, wie diese auf „magische“ Weise einen Mann kennengelernt hat. Als es ihr mit jeder weiteren Ausführung ihrer Freundin zunehmend dämmert, dass sie diesen Mann kennt, löst das in ihr innere Konflikt aus, die sich für die immer frei heraus daherredende Meiko nicht recht rationaliseren lassen. Als sie den fraglichen Mann, Kazuaki (Ayumu Nakajima), noch in selbiger Nacht in seinem Büro aufsucht, reißen bei diesem alte Wunden wieder auf, die in Meiko allerdings ein dunkles Behagen auslösen. Wenn es irgendjemand Bösen in dieser Geschichte gebe, so sei es Meiko selbst, heißt es da an einer Stelle. Die Art und Weise, wie Meikos Macht über Menschen hier dialektisch als Quell der Bedrohung und Selbstversicherung porträtiert wird, ist hervorragend beobachtet.
Politisch gegenwärtig zeigt sich Hamaguchi dann in der zweiten Episode, die durchaus Verweise zu den überhitzten Debatten rund um die sogenannte Cancel Culture erlaubt. Dort gibt Nao (Katsuki Mori) den Drängen ihres Kommilitonen Sasaki (Shouma Kai) nach, mit dem sie eine Affäre unterhält, und entschließt sich als Mittelsfrau in einem Racheakt den kürzlich mit dem prestigeträchtigen Akutagawa-Preis ausgezeichneten Schriftsteller und Literaturprofessor Segawa (Kiyohiko Shibukawa, 37 Seconds) zu verführen, der Sasaki zuvor den Studienabschluss verweigert hatte. Wider aller Erwartung entwickelt sich Naos Versuch, den Professor durch das Vorlesen einer besonders pikanten Szene aus dessen eigenen Roman zu verführen, zu einem philosophischen Diskurs, changierend zwischen persönlicher Verwundbarkeit, peinlichem Berührtsein und der Schwierigkeit, sich selbst in einer Gesellschaft treu zu bleiben, die das Kollektiv dem Individuum vorzieht.
Auf seltsame Weise auf eine fehladressierte E-Mail, die in der mittleren Episode einen gleichsam unerwarteten wie tragischen Einschnitt herbeiführt, folgend, erfahren wir durch eine Texteinblendung zu Beginn der abschließenden dritten Episode, dass es in der Welt dieser Geschichte im Jahr 2019 ein Computervirus gegeben habe, das sämtliche privaten wie geschäftlichen, profanen wie delikaten digitalen Daten veröffentlicht habe, und die Welt in dessen Folge offline gegangen sei, die Post wieder zu einem analogen Zustellsystem zurückgefunden habe. Hierbei handelt es sich sicher um einer der cleversten Reaktionen der Filmwelt auf die COVID-19-Pandemie. In dieser entschleunigten Welt begleiten wir Natsuko (Fusako Urabe, The Land of Hope) auf eine Wiedersehensfeier ihrer ehemaligen High School, auf der sie denkbar fehl am Platz wirkt. Wie wir später erfahren, ist sie nur wegen einer ganz bestimmten Person erschienen und umso enttäuschter, als diese nicht auftaucht. Als sie allerdings am nächsten Tag eine Rolltreppe herunterfährt, da glaubt sie, ihre alte Freundin (Aoba Kawai, My Man) wiederzuerkennen. In heller Aufregung fällt sie dieser in die Arme, und wird von ihr auch gleich nach Hause eingeladen. Dort wird jedoch zunehmend deutlich, wie weit Erwartung und Wirklichkeit auseinanderklaffen.
Meisterhaft verwebt Ryûsuke Hamaguchi in seinem Triptychon Wheel of Fortune and Fantasy das, was war, mit dem, was ist, was hätte sein können und was vielleicht sein wird. Sein Nachdenken über die Zufälle, die diese Geschichten begleiten, entlarvt diese bisweilen als schiere Wünsche, die Dinge so zu sehen, wie wir sie uns vorgestellt haben. Auf besonders poetische Weise gelingt ihm das in jener letzten Episode, wenn das gesellschaftliche Rollenspiel auf feinsinnigste Weise mit dem übergeordneten Thema der Sehnsucht verwoben wird. Und auch wenn die Dinge bei weitem nicht immer so romantisch liegen, steckt doch eine nicht zu leugnende Logik in der bittersüßen Feststellung des Professors Segawa, der zugibt, dass er sich wünschte, Nao hätte ihn zu Fragen über seinen Roman aufgesucht, bevor er mit dem literarischen Preis ausgezeichnet wurde, sie ihn aber, wenn er den Preis nicht erhalten hätte, niemals aufgesucht hätte. Die Dinge geschehen, so scheint es Hamaguchi zu verlauten, und sie haben Konsequenzen. Und manchmal sind jene Ereignisse, die wir Zufälle nennen, auch nur solche, wenn wir sie Zufälle sein lassen.