Manchmal scheint es ein Stück weit in Vergessenheit geraten zu sein, wie viele Klassiker auf das Konto von Robert Zemeckis (Allied – Vertraute Feinde) gehen. Mit Zurück in die Zukunft, Falsches Spiel mit Roger Rabbit, Der Tod steht ihr gut, Forrest Gump, Contact und Cast Away – Verschollen aber hat sich der aus Chicago stammende Filmschaffende zweifelsohne einen Status erarbeitet, der nicht nur Eindruck schindet, sondern nach wie vor Anerkennung abverlangt. Sein neustes Werk, der auf wahre Begebenheiten zurückgehende Willkommen in Marwen, fusioniert nun gewissermaßen zum ersten Mal zwei genrebezogene Vorlieben Zemeckis': Das Dokumentarkino (als Inspiration) und die Stop-Motion-Animation. Was ihn reizt, so der Regisseur, sind interessante Menschen – und die Leinwand ermöglicht es, diesen Menschen in die Köpfe zu blicken. Hier werden Träume, Ängste, Sehnsüchte lebendig.
Die Geschichte von Mark Hogancamp (in diesem Fall von Beautiful Boy-Hauptdarsteller Steve Carell verkörpert) wurde bereits in der Dokumentation Marwencol von Jeff Malmberg aufbereitet. Hogancamp, ein talentierter Maler, stand im Jahre 2000 nach einem Kneipenbesuch fünf Jugendlichen gegenüber, die ihn daraufhin in ein neuntägiges Koma prügelten. Der Grund dafür war ein banaler: In der Bar hat er im betrunkenen Zustand davon berichtet, dass er sich gerne Frauenkleider anzieht. Röcke, Stöckelschuhe, Blusen. Das volle Programm. Aus dem Koma erwacht, musste Hogancamp sodann nicht nur seine motorischen Fähigkeiten wiedererlernen, sondern hatte auch mit gewaltigen Gedächtnislücken und Panikattacken zu kämpfen. Und hier setzt nun Robert Zemeckis mit Willkommen in Marwen an, um zu beschreiben, wie sich dieser Mensch einer selbsttherapeutischen Maßnahme unterzogen hat, um sich selbst sukzessive zu heilen.
Hogancamp hat sich in seinem Garten eine Miniaturwelt geschaffen, die ein belgisches Dorf im zweiten Weltkrieg darstellt. Die darin ansässigen Puppen sind Abbilder realer Begegnungen und Kontakte. So trifft man hier nicht nur auf eine Gruppe fetischisierter Barbies, sondern auch auf Nazi-Schergen und natürlich Hogancamp selber, der sich als Pilot schneidig in Szene setzt. Bereits die Eröffnung von Willkommen in Marwen veranschaulicht auf äußerst immersive Art und Weise, wie sich die Realität und die apparturerzeugte Wirklichkeit die Hände unter Zemeckis' Aufsicht reichen: Da sehen wir jenen Cap'n Hogie mitten im Gefecht. Sein Flugzeug stürzt ab, seine Schuhe fangen Feuer und das Nazi-Pack stellt sich ihm auch noch in den Weg. Und gerade, als es ernsthaft brenzlig für unseren kernigen Helden wird, taucht seine weibliche Entourage auf und rettet ihn vor dem Schlimmsten.
Danach ertönt das Klicken eines Auslösers, wir sehen arrangierte Puppen und den echten Hogencamp, der das von ihm gestaltete Szenario fotografiert. Kunst als Antrieb des Gesundungsprozesses; als Umgangsmethode mit tiefsitzenden Traumata und Ebnung des Anspruchs, sich selbst zu finden und zu akzeptieren. Willkommen in Marwen dringt also tief in die Phantasie (und damit die Seele) seiner Hauptfigur ein, um dadurch einen Weg in die echte Welt für diese zu schaffen. Robert Zemeckis setzt in den Stop-Motion-Passagen deshalb clevererweise nicht auf einen beeindruckenden Fotorealismus, sondern bleibt dem Künstlichen des Spielzeug-Charakters der Puppen treu. Das schafft hinsichtlich der Ästhetik eine wunderbar eigenwillige Dynamik, die bisweilen vor visuellem Humor strotzt und sich dazu einige überraschende Widersprüchlichkeiten und Irritationen innerhalb der Wahrnehmung des Zuschauers leistet.
Wenn sich Willkommen in Marwen immer wieder zurück in das kleine belgische Dorf begibt, dann lässt Robert Zemeckis fast schon eine unbändige Liebe zur 1970er Jahre Exploitation aufleben. Die hier anwesenden Frauenfigur treten in Strapse, High Heels und mit dicken Wummen auf, sind damit auf der einen Seite sexualisiert, auf der anderen aber auch die emotionale Stütze für Cap'n Hogie beziehungsweise Mark Hogancamp dahingehend, an seinem Leben nicht zu zerbrechen. So sehr sich Willkommen in Marwen auch als Plädoyer auf die widerborstige Kraft der Frauen verstehen möchte, wenn der Film in der Realität ankommt und die Vorbilder der Puppen-Figuren aus Fleisch und Blut auftreten lässt, erweisen sich die Damen als eindimensionale, durch und durch gutherzige Ratschlaggeberinnen. Die Ambivalenz des Stop-Motion-Kosmos wird für ein konservatives Verständnis von unbedingter femininer Anteilnahme geopfert.
Gegen Ende bemüht sich Willkommen in Marwen dann auch immer wieder etwas zu krampfhaft darum, die herzergreifenden Töne anzuschlagen und kann sich ein grobschlächtiges Spiel auf der Gefühlsklaviatur nicht verkneifen. Sieht man aber davon ab, dann zeichnet sich Robert Zemeckis hier (mal wieder) für ein hochinteressantes Filmerlebnis verantwortlich, weil er weder die Puppenwelt, noch die Realität als glattgebügelte Projektionsfläche schnell verwertungsfähiger Emotionen begreift, sondern sich nach neuen Darstellungs- und Abbildungsformen umsieht, um den traumatisierten Geist des ebenfalls mit Ecken und Kanten ausgestatteten Hauptakteurs greifbar zu machen. Steve Carell erweist sich indes als Idealbesetzung für den halb zu Tode geprügelten, emotional gestörten Mark Hogancamp, weil der Oscar-nominierte Schauspieler nicht nur das komödiantische Talent mitbringt, um der entfesselten Kriegsaction im Maßstab 1:6 die nötige Ironie abzuringen, sondern auch die gestandene Qualität, einen Charakter zu entwickeln, der nicht einfach, aber glaubwürdig ist.