Auf dem Papier liest sich Saint Clare wie ein ansprechender Krimi-Mystery-Thriller – aufgedröselt wird eine Vermisstenserie in einer Kleinstadt und dabei rücken Korruption, Missbrauch sowie potenzielle Femizide als nicht unwichtige Themen in den Vordergrund. Aber das tut die amerikanisch-italienische Regisseurin Mitzi Peirone (Obsessed - Tödliche Spiele) nicht mit einer dahergelaufenen Protagonistin, sondern mit einer streng religiösen Teenagerin. Clare geht auf eine katholische Schule und fühlt sich wie vom Herrn beauftragt. „Everything that I have said and done has been in the hands of god. I was born to do this“, heißt es in Clares mantraartigen Monologen, wenn sie ihre dunkle, von Rache erfüllte Seite hervorzeigt.
Ein bisschen schimmert da „Saint Maud“ durch, aber besonders der Stummfilm „Die Passion der Jungfrau von Orleans“ aus dem Jahr 1928. Und Peirone möchte ihre Hauptfigur als eine Jeanne d’Arc und feministische Antiheldin präsentieren, die die Taten der Verbrecher nicht ungesühnt lässt. Und das gelingt auch – nicht nur über einen ansprechenden Einstieg mittels Trauma und großer Typografie in Form der Frakturschrift, sondern auch durch ihre manischen Episoden.
Doch Mitzi Peirone möchte mehrere Themenfelder Stück für Stück beackern: die Gefühlsschübe ihrer Hauptfigur, dessen schulisches Umfeld und die andauernde Krimiserie in der Kleinstadt. Das alles in 92 Minuten mit Abspann zu zeigen, ist jedoch zu ambitioniert, wie sich mit der Zeit herausstellt. Bei der Hauptfigur steigert sich der Film zu sehr in die Anspielungen auf Carl Theodor Dreyers einflussreichen Film hinein und blendet in einer Szene das dazugehörige Filmposter lustlos ein. Clares Schulleben wirkt hingegen uninspiriert: da das typische Geplauder mit ihren Freundinnen, dort das Streitgespräch mit dem Rektor, und immer wieder können die dramatische Momente weit vorher antizipiert werden. Bei der Aufklärung der Vermisstenserie ist Clares Tatendrang deutlich zu erkennen, genauso wie die Einflüsse von „Promising Young Woman“. Peirone baut auf gewaltsame Konfrontationen und einem finalen Kampf gegen die Strippenzieher. Letzterer ist aber so plump und schlecht eingefangen, dass der Verdacht sich erhärtet, dass Schauspieler:innen und Stuntleute zu wenig geprobt haben.
Als Genrehybrid kommt der Film nie zur Ruh. Und das untermauert Mitzi Peirone, indem sie inszenatorisch gefühlt aus allen Rohren feuert: Mit Nahaufnahmen wird bei Clare nicht gespart, ebenso wenig wie mit Dutch Angles und wackelnden Einstellungen. Emotionale Zuspitzungen werden mit wilden Montagen oder Abblendungen in einen dunkelroten Hintergrund bebildert. Für die typische Teenager-Party knausert der Soundtrack nicht mit Techno-Musik, Zeitlupen beim Feiern betonen die ausgelassene Atmosphäre. Alles wird aufgeboten, nur originell wirkt das nicht. Leider macht die Regisseurin außerdem zu viel Gebrauch vom Score, den die Musikerin Zola Jesus beisteuert. Im Zusammenspiel mit der Kamera sprudelt Saint Clare so immer wieder vor Energie über.
Viele Genres, viele Handlungsstränge, also benötigt es anscheinend ein paar (scheinbar) witzige Momente, um mal durchatmen zu können. Deswegen führt Clare Gespräche mit einem verstorbenen Mann (gespielt von Frank Whaley, Pulp Fiction), der sie begleitet und zu den Geschehnissen seinen Senf gibt. Oder ein Theaterregisseur, der mit seinem androgynen Auftreten auf sich aufmerksam macht. Es wäre besser gewesen, die beiden genannten Personen entweder komplett rauszustreichen oder den Humor in die Gespräche unter den Freundinnen oder als persönlicher Kommentar seitens Clares zu verpacken.
Die meiste Last während der Handlung schultert Bella Thorne (The Babysitter), die Clare verkörpert. Ihr fehlt es aber an Präsenz, an Ausdrucksvermögen, was vor allem bei den hölzernen Racheakten und Gefühlsschüben auffällt. In einem späteren Moment steht sie für einen Fernsehsender Rede und Antwort, wobei das Publikum aus jenen Gründen anfängt zu lachen – und das zurecht. Ryan Philippe (Eiskalte Engel), der als Detective Timmons die Hauptfigur stets argwöhnisch beobachtet, hat ebenfalls kaum Durchsetzungskraft. Frank Whaley kann in seinen wenigen Momenten noch mit seinem Gesicht und seiner Erfahrung punkten.
Aber „wenig“ ist das Stichwort zum zweite großen Problem: den Dreharbeiten zu Saint Clare. Nach dem Abspann schildert Mitzi Peirone in der Fragerunde mit Demut die dramatischen Umstände bei der Produktion – es hört sich an wie ein Alptraum für Indie-Filmemacher:innen. Laut Regisseurin kam es zu finanziellen Engpässen, wodurch für den Film nur 15 Drehtage zur Verfügung standen. An jedem Tag wurden um die 68 verschiedene Einstellungen (Kamera-Setups) gedreht, für jede Szene gab es nur ein oder zwei Takes – ein dritter wäre Luxus gewesen. Szene im Kasten, zack weiter geht’s – dieser Arbeitsrhythmus spiegelt sich in fast jeder Szene wider. Damit tut Mitzi Peirone auch den Schauspieler:innen keinen Gefallen. Wenig geprobt (allenfalls für Stuntsequenzen), wenige Kompromisse, dafür möglichst viele Bilder und das meiste aus einem überladenen Drehbuch umsetzen – ein Unglück mit Ansage.