Viel ist niedergeschrieben worden über Jeanne d'Arc, die im deutschen Sprachgebrauch auch als Johanna von Orléans bekannt ist und heute als Nationalheldin Frankreichs gilt. Während des Hundertjährigen Krieges im Jahre 1400 verhalf sie den französischen Truppen zu einem Sieg über die Engländer bei Orléans, wobei sie es war, die auf dem Schlachtfeld voranritt und die anderen Soldaten durch ihre Furchtlosigkeit beeindruckte. Dabei kommt Jeanne d'Arc, die als einfaches Bauernmädchen aufgewachsen ist, zugleich eine religiöse Rolle zu. Von der römisch-katholischen Kirche wird die Freiheitskämpferin als Jungfrau und Heilige verehrt, was damit zusammenhängt, dass Jeanne angeblich bereits im Alter von 13 Jahren zum ersten Mal die Stimme Gottes gehört haben soll. Außerdem soll sie Erscheinungen der Heiligen Katharina und Margarete sowie des Erzengels Michael gehabt haben. Für ihre Mission, ganz Frankreich im Mittelalter von den Engländern zu befreien, beruf sie sich stets auf eine göttliche Mission.
Dieser religiöse Aspekt des unabbringlichen Glaubens steht im Mittelpunkt von Carl Theodor Dreyers Stummfilm Die Passion der Jungfrau von Orléans aus dem Jahr 1928. Für sein Werk hat sich der dänische Regisseur die realen Protokolle des Gerichtsprozesses gegen Jeanne d'Arc als Vorlage genommen, um die letzten Stunden im Leben der Frau zu schildern, die im Kampf für ihren Glauben als Märtyrerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Im Gegensatz zu den zahlreichen anderen Verfilmungen, die sich dem Leben der berüchtigten Freiheitskämpferin annahmen, verdichtet Dreyer das Schicksal von Jeanne ganz bewusst auf die letzten Stunden ihres Lebens. Der Begriff der Passion, welcher bereits auffällig im Titel des Films steht, ist hierbei der ausschlaggebende Indikator für die Geschichte, die erzählt wird. Es ist eine Passionsgeschichte, die der Regisseur mit einer überaus eindringlichen Bildgewalt über unentwegte Nahaufnahmen inszeniert.
Die Passion der Jungfrau von Orléans beginnt zu jenem Zeitpunkt, an dem sich Jeanne längst in Gefangenschaft befindet und vor einem Gericht gegenüber den Anschuldigungen der Ketzerei aussagen soll. Den Ablauf dieses Gerichtsprozesses schildert Dreyer dabei filmisch in Einstellungen, die eher einzelnen Gemälden gleichen, in denen die Gesichter der Personen als Geschichten für sich dienen. Ein Gesicht wird der Betrachter des Films dabei vermutlich nie mehr vergessen. Es gehört Maria Falconetti, die Jeanne d'Arc in ihrer einzigen Filmrolle überhaupt spielt. Mithilfe der Hauptdarstellerin, die den Leidensprozess der angeklagten Freiheitskämpferin sowie Tiefgläubigen völlig ohne hörbare Worte nur durch ihre Gesichtsausdrücke vermittelt, wird Die Passion der Jungfrau von Orléans zu einem Werk, in dem der historische Kontext mehr und mehr verblasst. Stattdessen hat Dreyer die Stummfilmära um einen, gerade formal, nahezu revolutionären Meilenstein bereichert, der den individuellen Glaubenskrieg im Angesicht von institutioneller Unterdrückung verhandelt.
Mit verschiedenen Mitteln wie gefälschten Briefen von Karl VII. oder durch Androhung von harter Folter wollen die Richter Jeanne dazu bringen, ein Geständnis zu unterschreiben, in dem sie sich zum Teufel bekennt, von dem die Erscheinungen stammen sollen, denen sie sich bedingungslos unterworfen hat. Neben den Gesichtern der Richter, die Dreyer in speziellen Winkeln einfängt, die den durchwegs ungeschminkten Schauspielern zusätzlich eine Art diabolische Aura verleiht, kehrt die Kamera von Rudolph Maté am häufigsten in das Gesicht von Jeanne zurück. Hier ergründet der Regisseur den Schmerz der Frau, der nur ganz selten Zweifeln an ihrem Glauben weicht, während wieder und wieder Tränen über ihr Gesicht laufen. Falconetti, der in diesem Film eine der erschütterndsten, wuchtigsten Darbietungen der gesamten Filmgeschichte gelingt, wird zur tragischen Oberfläche komplexer innerer Seelenlandschaften. Dass die Hauptdarstellerin nach der Beteiligung an Dreyers Werk nie wieder in einem anderen Film mitwirkte, da sie vom Regisseur angeblich äußersten Strapazen bei den Dreharbeiten ausgesetzt wurde und mitunter stundenlang auf dem Boden knien musste, verwundert nicht.
Je nachdem, wie viel Wahrheit in diesen Hintergründen steckt, tragen die erschwerten Bedingungen jedoch verstärkt dazu bei, dass von der Hauptfigur eine beispiellos hypnotisierende sowie mitreißende Präsenz ausgeht. Wenn Jeanne neben all dem ausgestrahlten Leid beim Gedanken an den bevorstehenden Tod zusätzlich eine seltsame Ekstase ausstrahlt, die durch Falconettis weit aufgerissene Augen blitzt, dann wird Die Passion der Jungfrau von Orléans auch zu einem Werk, das sich dem Märtyrertum in all seinen beängstigenden, traurigen wie ekstatischen Facetten nähert. 1928 verbrannte die Originalfassung des Films in den ufa-Studios von Berlin, wonach der Regisseur eine neue Version aus Reststücken anfertigte, die 1929 ebenfalls verbrannte. Erst 1951 wurde eine Kopie der Zweitfassung geborgen, während noch einmal 30 Jahre später eine gut erhaltene Kopie der Erstfassung entdeckt wurde, die anschließend ausgiebig restauriert und neu veröffentlicht wurde. Fast scheint es, als könne das Schicksal Dreyers Werk ebenso wenig anhaben wie die Flammen der Seele von Jeanne d'Arc, die sich aus dem verbrannten Körper am Ende des Films doch noch zum Himmel erhebt.