In den vergangenen Jahren ist im Kino die Fahrt ins All und der Traum von den Sternen zum Vehikel einer psychologischen Charakteraufarbeitung geworden. Während Matthew McConaughey in Intersteller zwar die Welt retten muss, gleichzeitig aber dem Verbleib seiner Tochter auf der Erde nachtrauert, reisen Ryan Gosling in First Man und Brad Pitt in Ad Astra primär ins All um dort ihre persönlichen, emotionalen Wunden verheilen zu lassen, in der Hoffnung, dass im Angesicht der Sterne ihre Probleme endlich Sinn ergeben werden. In Alice Winocours (Augustine) Proxima geht das Ganze einen Schritt zurück. In ihrem Film steht Sarah (Eva Green, Perfect Sense) vor derselben Herausforderung wie McConaughey in Nolans Film: Der Weg ruft sie zu den Sternen, aber ihre Tochter Stella (Zélie Boulant) kann sie nicht loslassen. Statt einer äußerlichen Bedrohung ist hier jedoch die primäre Mission der wissenschaftliche Fortschritt, wie auch die eigene, berufliche Karriere. Dementsprechend gestaltet sich Proxima wesentlich zurückgenommener als die genannten Filme und beobachtet die Raumfahrt aus einer geerdeten Perspektive, bei der die Mission bereits das eigentliche Ziel ist.
Der, in französisch-deutscher Koproduktion entstandene, Film ringt ähnlich wie seine Protagonistin mit zwei Motivationen: Zum einen etabliert er das fürsorgliche Verhältnis zwischen Mutter und Tochter und zeigt dieses in behutsamen Familienmomenten, bei denen sowohl der familiäre Zusammenhalt als auch die Botschaft „loslassen zu können“ stark im Mittelpunkt steht. Gleichzeitig aber bleibt die Entscheidung von Sarah, ihre Familie für die einmalige Chance, die erste Astronautin auf dem Mars zu werden, verlassen zu müssen, permanent im Raum und steht trotz ihrer Zweifel und mütterlichen Gefühlen nie wirklich in Frage. Beide charakterlichen Motivationen versucht der Film unterzubringen, doch Winocour hegt offensichtliche Faszination für die Apparaturen, Trainingsprozeduren wie auch für das Gelände von Ausbildungsstützpunkt Star City, sodass der emotionale Kern ihres Filmes zu einem Nebenprodukt verkommt.
Ideologisch gesehen ist das sehr eindeutig: Das starke Augenmerk von Proxima auf die Abrichtungen und Trainingscamps der Astronautenwelt lassen den Film wie ein Einführungsvideo für eine Geschäftsreise wirken, wie ein Rundgang zur Vorbereitung für den nächsten Business-Trip. Dementsprechend werden Gefühle zur Familie genauso rationiert mitgeliefert, wie Pralinen in Geschenkkörben zum Empfang. Die wichtigsten Konflikte die Eva Green körperlich und mental leisten muss werden rationalisiert in ihr Training, wie auch schließlich der Abschied von der eigenen Tochter. Alles ordnet sich Leistung und Ausdauer unter, alles im Sinne der menschlichen Expansion, deren genauer Sinn uneindeutig und vage bleibt. Besonders offensichtlich wird dies in zwei Charakteren: Matt Dillon (The House That Jack Built) wird zunächst als stark offensiv veranlagtes Crew-Mitglied eingeführt, der sich die eine oder andere sexistische Bemerkung nicht verkneifen kann, ein Versuch des Filmes die Rolle und Bürden von Frauen in der Raumfahrt zu betonen, doch im Verlauf der näher rückenden Raumfahrt wird jede Kritik an seinem Verhalten an seiner Teamfähigkeit und seiner Leistung rationalisiert. Sexismus ist nicht schön, gehört aber eben dazu, drückt es der Film unfreiwillig aus.
Eine andere unbedachte Figur ist die Psychologin Wendy Hauer (Sandra Hüller, Toni Erdmann) welche sich um Tochter Stella kümmern soll und die damit theoretisch ein emotionales Potenzial in sich trägt da sie für Stella die Mutterrolle ersetzen könnte. Doch soweit denkt Proxima nicht. Ihr Charakter dient reinster Funktionalität, nämlich um zu verdeutlichen, dass man sich bei der Raumfahrt für wirklich alle emotionalen Krisen gesorgt ist. Man erinnert sich an die Auswüchse des modernen Unternehmergeistes, bei der die Familie mit in die Geschäftswelt integriert wird, um so Leistungen weiter zu maximieren. Deswegen ist die Psychologin hier auch nur Psychologin, statt rundem, emotionalem Charakter. Dasselbe trifft auch auf Tochter Stella zu, die nur die Funktion erfüllen darf, ihre Mutter zu vermissen, die dann aber doch einsehen muss, dass sie das richtige tut, um ihr dann in der startenden Rakete zum Mars zuzuwinken. Filme wie Interstellar, First Man oder Ad Astra greifen nach der Menschlichkeit im menschenleeren Raum, nach den auf Erden unerreichbaren Gefühlen, nach den unendlichen Möglichkeiten des Alls, doch in Proxima gibt es nur die Mission der Expansion von Geschäften und Unternehmen. Menschen müssen funktionieren und ihre Gefühle am besten an dieselben lebenserhaltenden Maschinen anschließen, wie die Körper der Astronauten während der Fahrt.