Die erste Einstellung in Past Lives beginnt vielversprechend: Wir sehen eine asiatischstämmige Frau an einer Bar sitzend, links neben ihr ein asiatischstämmiger Mann, rechts neben ihr ein weißer Mann mit lockigen Haaren. Zu weit entfernt, um ihrem Gespräch zu lauschen, hören wir stattdessen zwei Stimmen aus dem Off, die darüber spekulieren, wie sich diese drei Personen wohl zueinander verhalten mögen: Ist der asiatisch gelesene Mann der Bruder der Frau und der Lockenschopf ihr Mann? Oder handelt es sich um ein Paar mit asiatischen Wurzeln und ihrem amerikanischen Freund? Es ist ein durchaus vergnügliches Unternehmen, dem diese für uns gesichtslosen Menschen nachgehen, ein Mysterium, das seine Faszination aus unserer Unwissenheit und der Bedeutung zieht, mit der wir es aufladen. Die Atmosphäre, die Regie-Debütantin Celine Song in erstem Spielfilm so effektiv und virtuos kreiert, verpufft indes wenige Augenblicke später, wenn wir die Anfangsszenerie verlassen und uns eine Einblendung mit den Worten „24 Years earlier“ bedeutet, uns darauf einzustellen, in den kommenden rund 100 Minuten genau zu erfahren, was es mit dieser Personenkonstellation auf sich hat.
Innerhalb der vergangenen Jahre hat es mit Lulu Wangs The Farewell und Lee Isaac Chungs Minari zwei Filme gegeben, die durchaus zum Vergleich mit Celine Songs Past Lives einladen: alle drei Filme reflektieren das doppelte Bewusstsein und die spezifischen Erfahrungen asiatischstämmiger Nordamerikanerïnnen, feierten auf dem Sundance Film Festival ihre Weltpremiere und wurden dort frenetisch von der nordamerikanischen Presse gefeiert (was sich im Folgenden durch A24-Distributionsdeals und entsprechende Marketing-Kampagnen potenzierte). Überdies ist Past Lives, wie Wangs The Farewell und Chungs Minari, von den spezifischen Erfahrungen ihrer Filmemacherïnnen inspiriert. Im Falle Songs bedeutet dies, dass es die eingangs beschriebene Szene des ungleichen Dreigespanns in der Bar tatsächlich gegeben hat, damals allerdings mit Song selbst in der Hauptrolle und Mitte der beiden Männer. In ihrem Spielfilmdebüt heißt diese Figur Young Na (Moon Seung-ah, The Hill of Secrets) und wächst als Tochter inmitten von Filmdosen und Büchern in einer Künstlerïnnenfamilie im südkoreanischen Seoul auf. Als ihre Filmemacherïnnen-Eltern beschließen, nach Toronto umzuziehen, bedeutet dies allem voran, Abschied von Hae Sung (Seung Min Yim), ihrem besten Freund und, wie Young Na erst in der Retrospektive vollends bewusst wird, ihrer ersten Liebe zu nehmen. Untermalt wird dies durch eine Bifurkation: Hae Sungs Nachhauseweg führt nach links, Young Nas eine steinige Treppe empor. Neben Hae Sung lässt Young Na auch, für die erleichterte Ankunft in Kanada, ihren koreanischen Namen zurück und nennt sich von nun an Nora. Der Wechsel ihres kulturellen Umfelds kommt Nora indes zupass: Eines Tages, so verkündet sie ihren Klassenkameradïnnen noch vor ihrem Abschied, werde sie den Literaturnobelpreis gewinnen. Und da sich dieses Ziel offensichtlich nicht in koreanischer Sprache erreichen ließe, sei der Wechsel ins Englische nur logisch.
In der Folge führt uns Celine Song auf denkbar formelhafte Weise im Schnelldurchlauf durch die 24 Jahre, die vergehen, bis Nora bzw. Young Na und Hae Sung erneut aufeinandertreffen: Wir sehen Hae Sung (nun gespielt von Yoo Teo (Decision to Leave)), der erfolgreich Ingenieurswissenschaften studiert, seine Freunde im immergleichen Restaurant trifft und eines Tagen zum Militärdienst eingezogen wird. Nach vielen Jähren finden beide über Facebook wieder zueinander und sie beginnen eine intensive Skype-Beziehung miteinander. Als sich Nora (Greta Lee bekannt aus (Russian Doll)) die Möglichkeit eröffnet, eine Künstlerinnen-Residenz in Montauk zu beziehen (Hae Sung, der nie zuvor von der kleinen Gemeinde am östlichsten Zipfel Long Islands gehört hat, sehen wir, auf Noras Anraten hin, Eternal Sunshine of the Spotless Mind sehen), wird sie sich ihrer emotionalen Abhängigkeit bewusst wird, die sie in Bezug auf die täglichen, immer wieder durch Internetstörungen unterbrochenen, Gespräche mit Hae Sung empfindet, und kappt daraufhin ihre Verbindung, um sich vollends auf ihre Arbeit als Dramatikerin zu konzentrieren – nun nicht mehr mit dem Nobel-, sondern dem Pulitzerpreis im Hinterkopf. Die Residenz in Montauk stellt sich unterdessen als einschneidende Erfahrung im Leben Noras heraus, als Arthur (John Magaro, Showing Up), ein anderer eingeladener Schriftsteller, in ihr Leben tritt – eben jener Lockenschopf, dem wir bereits in der Eröffnungsszene begegneten.
Als hätte man sie dazu angehalten, die größtmögliche narrative Raffung in kürzester Zeit herzustellen, schwebt Song über all diese Momente hinweg, setzt uns im Vorbeigehen über die, auch durch die Greencard motivierte, Ehe Noras und Arthurs und ihr gemeinsames, beengtes Leben im East Village ins Bild. In einer Szene deutet sich an, welche Größe Past Lives hätte erreichen können, wenn Song sich mehr auf die Figuren konzentriert hätte, die ihr eigentlich doch so greifbar sein sollten. Nachdem Hae Sung in New York ankommt – nur für einen Urlaub, wie er seinen Freunden weißzumachen versucht –, trifft er dort erstmals seit mehr als zwei Jahrzehnten auf Nora (bzw., wie er sie noch immer nennt, Young Na). Für den nächsten Tag steht indes ein gemeinsamer Abend mit Arthur, Nora und Hae Sung an, hinsichtlich dessen Arthur in der Nacht zuvor, neben Nora im Ehebett liegend, anmerkt, dass, wäre ihr Leben eine Geschichte, ein Film, er selbst der Bösewicht sei, der einzig dazu da sei, sich dem romantischen, scheinbar vorbestimmten, Zusammenkommen der Jugendliebe entgegenzustellen. Es ist ein seltener Moment des Filmes, in dem Celine Song, paradoxerweise just in dem Moment, da sie mit Selbstreferenzialität arbeitet, ihren Charakteren näher kommt. Denn obzwar es sich hier auf rezeptionsästhetischer Perspektive um einen an das Publikum gerichteten Witz handelt, drückt sich in Arthurs Anmerkung die wahrhaftige Sorge eine Schriftstellers und Ehemannes aus, die umso eindringlicher gerät, als dieser wenig später ausführt, dass Nora regelmäßig im Schlaf spreche, und das diesen Sprechen ausnahmslos immer auf Koreanisch stattfinde – eine Sprache, die er (obgleich wir ihn in mehreren Szenen rudimentäres Koreanisch sprechen hören) niemals gleichwertig beherrschen, geschweige denn in ihr träumen werde.
Auf kluge Weise macht Arthur, und somit Song, auf eine ebenso schmerzliche wie unabänderliche Tatsache aufmerksam: dass, so sehr wir uns auch darum bemühen, und so stark wir uns auch institutionell an eine Person binden mögen, es wird doch immer eine unüberbrückbare Distanz zwischen beiden Parteien verbleiben. Gemessen an dieser Prämisse scheint es fast folgerichtig, dass Song uns ihre Figuren eher in Form von Abrissen denn als dreidimensionale Charaktere präsentiert, handelt es sich dabei letztlich doch ohnehin um ein hoffnungsloses Unterfangen. Allerdings kann sich aus einer solchen Erzählweise – ohne den Versuch – keine Tragik entwickeln.
Insofern bleibt die Ehebettszene bedauerlicherweise eine der wenigen Höhen eines Drehbuchs, das sich weniger für die Tiefen seiner Figuren als für deren generellen Werdegang interessiert. Wie funktionalistisch die Geschichte konstruiert ist, tritt nicht nur in der ersten Hälfte deutlich zu Tage, die, ohne wahrhaftig einmal mit den Nora oder Hae Sung zu verweilen, deren Lebensstationen auf seichteste Weise abgearbeitet werden. Gegen Endes des nicht einmal zweistündigen Filmes fühlt sich Song gar genötigt, uns durch den wiederholten Einsatz von Rückblenden an gemeinsame Kindheitserinnerungen Noras und Hae Sungs aus den ersten dreißig Minuten des Filmes zu erinnern.
Nichts wäre leichter, als die Themen, die Song zu adressieren vorgibt, an dieser Stelle zu übernehmen und als Stärken des Filmes zu deklarieren. Die diffuse Sehnsucht etwa, die sich in Nora und Hae Sung eingedenk dessen ausbreitet, was hätte sein können, hätten sie einen anderen – einen gemeinsamen – Lebensweg eingeschlagen. Oder das durch Song leitmotivisch eingesetzte In-Yun, ein koreanisches Konzept, das eine Mischung aus Schicksal und Vorhersehung beschreibt: wie die Kleidung eines oder einer Fremden, die uns zufällig im Vorbeigehen streift. Führt eine solche Begebenheit zu einer Ehe, drücken sich darin, der Folklore zufolge, gar 8000 Schichten In-Yun aus. Immer wieder kehrt In-Yun in die Konversation zurück, um die metaphysische und überzeitliche Dimension menschlicher Beziehungen zu betonen, allein, es will sich nicht auf das Publikum übertragen. Vielleicht, weil Song das Motiv überstrapaziert, vielleicht aber auch, weil man ihren Figuren, trotz (oder womöglich aufgrund) deren Verankerung in der Lebenswirklichkeit Songs, selten auf wahrhaftige Weise begegnet, sie stattdessen bis zuletzt eher funktionale Umschreibung bleiben.