Schon seit Jahren drohte Hayao Miyazaki damit das Filmeschaffen aufzugeben, kehrte jedoch immer wieder zurück um uns erneut mit einem weiteren Meisterwerk zu beglücken. Doch 2013 war es dann tatsächlich soweit: Miyazaki gab seinen Rücktritt bekannt und eine Welle der Bestürzung rollte durch die Filmwelt. Das Gerücht, dass Studio Ghibli endgültig die Pforten schließen und Miyazaki nie wieder etwas produzieren werde, entpuppten sich im Nachhinein zwar als Fehlmeldungen, unsere Herzen konnten jedoch dennoch nicht mit mehr kindlicher Magie und emotionaler Kreativität besänftigt werden, für die das Animationshaus so bekannt gewesen ist. Und obwohl Studio Ghibli offiziell nur eine „kreative Pause“ einlegen und Miyazaki sich schon anderen Projekten zugewandt hat, stellt „Erinnerungen an Marnie“ von Hiromasa Yonebayashi ("Arrietty – Die wundersame Welt der Borger") den zwischenzeitlich abschließenden Spielfilm des japanischen Animationsstudios dar. Miyazaki selbst verabschiedete sich von der Produktion abendfüllender Spielfilme nach seinem letzten Werk „Wie der Wind sich hebt“ im Jahr 2013 und war dementsprechend nicht mehr an der Adaption von Joan G. Robinsons Roman von 1967 beteiligt, dennoch erweist sich „Erinnerungen an Marnie“ als ein mehr als würdevoller Abschluss zu einer wahrhaft legendären Filmographie, die sich über drei glorreiche Jahrzehnte erstreckt.
Disney dominiert seit Menschengedenken den Animationsfilm im Westen und entschied sich dieses Genre, das unendliche Möglichkeiten bietet, mit Filmen zu füllen, die stets in erster Linie an ein jüngeres Publikum gerichtet waren. Zwar wurden westliche Animationsfilme erwachsener im Laufe der Jahrzehnte und Pixar legitimierte die Animation endgültig auch als eine Form der Unterhaltung für Erwachsene, doch waren es immer – und ich benutze dieses Wort sehr ungerne – Kinderfilme. Es ist nicht zu leugnen, dass das Potential eines solch vielseitigen Genres verschwendet wird, wenn man buchstäblich alles visualisieren kann und sich als Industrie dazu entscheidet sich exklusiv auf Kinderfilme zu beschränken.
Selbst in „König der Löwen“, der sich mit Mufasas Tod traute seinem jungen Publikum den vielleicht düstersten Moment der gesamten Disney-Filmographie vorzusetzen, sieht man Simba keine zehn Minuten später singend durch den Dschungel tanzen und Würmer schlürfen. Nie wird gezeigt, wie Cinderella um den Tod ihrer Eltern trauert, ebenso wird in "Frozen" der Tod von Elsas und Annas Eltern fallen gelassen, sobald Elsa gekrönt wird. Das Trauern zieht sich nie durch den gesamten Film, dem oft nicht mehr als eine Szene gewidmet wird. Es bestimmt nie die Atmosphäre oder die Thematik des Films. Selbst „Inside Out“, das sich zur Aufgabe machte die große Bedeutung von Trauer (bzw. Kummer) zu betonen, tat dies erst am Ende eines Filmes, das bis dahin zum Bersten gefüllt war mit Freude. „Erinnerungen an Marnie“ ist die Antithese zu Pixars „Inside Out“, ein Film über ein jugendliches, in Selbsthass versinkendes Mädchen, das im Laufe der Geschichte lernt, sich selbst zu akzeptieren.
Die Protagonistin Anna ist ein Weisenkind, das von Pflegeeltern großgezogen wird. Zu Anfang der Geschichte ist sie unglücklich, introvertiert zum Punkt der Antisozialität und depressiv. „Erinnerungen an Marnie“ stellt innerhalb der ersten paar Minuten Annas Depression recht klar dar, als Anna einen Asthmaanfall erleidet und zum Arzt muss. Ihre Pflegemutter, eine eindeutig gutmütige Mutter, die Anna liebt, als wäre sie ihr eigenes Kind, sorgt sich um die 12-jährige. Sie jedoch entschuldigt sich, dass sie ihrer Pflegemutter mehr Geld kostet. Im Gegensatz ist sie manchmal jedoch undankbar zu Erwachsenen, die gut zu ihr sind, sie Tritt Angebote der Freundschaft mit Füßen und ist sogar grundlos gemein. Anna selbst verursacht die vernichtende Einsamkeit, unter der sie leidet und ist dessen vollkommen bewusst. Zu Beginn der Geschichte macht sie dem Publikum schon unmissverständlich klar: „I hate myself.“
Bis zum dritten Akt verheimlicht „Erinnerungen an Marnie“ zumeist die Gründe für Annas panische Introversion, für die plötzlichen Momente, in denen sie sich regelrecht hassenswert macht und generell wieso sie ist, wie sie ist. Als Zuschauer wird man zu einem Gefühlscocktail aus Unverständnis, Abneigung und Mitleid eingeladen, weil man einerseits die Wege aus ihrer misslichen Lage erkennt und auf ihren Unwillen negativ reagiert, diese Wege zu beschreiten, man sich andererseits jedoch mit ihr identifiziert, weil man irgendwo doch feststellt, dass es sich bei ihrem Unwillen vielleicht doch eher um Unfähigkeit handelt und sie sich bessern möchte, es aber nicht einfach kann – obwohl sie weiß, wie. Die Konfusion, unter der man bis zum letzten Akt leidet, trägt leider dazu bei, dass man ein wenig das Interesse verliert und die zweite Hälfte des Films sich zieht.
Anna trifft auf die zauberhafte Marnie und es wird nicht sofort klar, ob es sich bei dem blonden Mädchen um Annas imaginäre Freundin oder um einen Geist handelt und Anna selbst stellt sich diese Frage. Diese Frage wird jedoch schon bald aus den Gedanken verbannt, weil sie zum ersten Mal seit Jahren wieder glücklich ist. Als sie letztendlich auch von Marnie verlassen wird, wird eine Wunde geöffnet, die nie richtig verheilt war. Die Wunde, die der Tod ihrer Eltern verursachte, als sie noch sehr jung war und sie nie um ihre Eltern getrauert hatte. Sie empfand den Tod ihrer Eltern immer als eine Aussetzung, als hätte man sie im Stich gelassen, weil es einfacher ist, als sich mit dem Verlust solch wichtiger Menschen auseinanderzusetzen – gerade als Kind ist diese Art der Verdrängung nicht unüblich. Mit Marnies Verschwinden ist Anna gezwungen sich ihren Emotionen entgegenzustellen und findet durch die Akzeptanz vielleicht nicht den Weg in ein normales, dafür jedoch in ein etwas glücklicheres Leben. Als Anna Marnie damit konfrontiert sie alleine gelassen zu haben, antwortet Marnie mit „I didn't mean to leave you. Forgive me.“ Eine Nachricht, die viele Verstorbene ihren Angehörigen wohl übermitteln wollen würden.