Lieber ein anderer Mensch sein, als sich mit dem eigenen Schmerz auseinanderzusetzen. Auch wenn es noch viel zu früh ist, bei Sion Sono (Antiporno) von einem Spätwerk zu sprechen, so wird seine Filmographie dennoch in zwei Teile untergliedert. Vor und nach Suicide Circle, der im Jahre 2001 zum ersten Mal internationale Aufmerksamkeit auf den japanischen Regisseur und Workaholic scheinen ließ. Diese Aufmerksamkeit scheint auch der einzige Grund für die Unterteilung zu sein, ist Sono doch seit jeher stilistisch ein Chamäleon, das immer wieder wilde Haken schlägt. Zwischen Krimi-Action wie Hazard und der J-Horror-Persiflage Exte: Hair Extensions erscheint dann ein Film wie Noriko’s Dinner Table, der eher der emotionalen Tragik eines The Land of Hope gleicht, als anderen Werken des Regisseurs.
Viel zu oft wird Noriko’s Dinner Table dabei als Prequel und irgendwie-Sequel zu Suicide Circle beworben. Auch wenn es stimmt; dieser Film spielt vor, nach und simultan mit den Ereignissen aus genanntem Film. Dabei geht es aber viel eher darum, dass die Gesellschaftskritik, die hinter dem Suicide Circle steht, näher beleuchtet und intensiver ausgeführt wird. So sollte man in dem Film eher eine Erweiterung und Vertiefung des Suicide-Universums sehen, als eine Hollywood-typische Prequel-Sequel-Maschine. Denn möglicherweise ist die oftmals verhaltene Reaktion auf diesen Film auch damit zu erklären, dass die Zuschauer mit einer Fortsetzungs-Erwartungshaltung an den Film herantreten. Doch hat es seine Gründe, dass der Film eben nicht Suicide Circle 2 heißt, sondern Noriko’s Dinner Table. Beide Filme funktionieren unabhängig voneinander.
In fünf Kapiteln, wobei vier jeweils den Namen der Figur tragen, die auch das Kapitel als Erzähler/in dominiert, erzählt Sono von den Schicksalen einer Familie. Vater, Mutter, Tochter#1, Tochter#2. Noriko, Tochter#1, ist eine junge und engagierte Schülerin. Sie schreibt gern, verbindet sich online mit anderen Interessierten auf der Website haikyo.com, die auch im Suicide Circle schon von Bedeutung war. In diesem ersten Kapitel erzählt Sono vordergründig eine Geschichte der Emanzipation. Noriko möchte aus ihrem Leben ausbrechen und nach Tokyo, in die große Stadt der noch größeren Versprechen. Ihr Verlierer-Vater kann sie mal, sie will aus ihrem Status Quo ausbrechen. Genug von ihrem Leben hat sie in aller Einsamkeit verbracht, sie will nach Tokyo - wo man bekanntlich nie allein ist.
Diese Einsamkeit ist das größte Thema des Films. Jede Gruppierung hat den Zweck, diese Einsamkeit aus der Gleichung zu streichen. Sei es beim Sport, in einer Band oder beim Gruppen-Suizid. So eigentlich auch die Familie, doch diese wird in Noriko’s Dinner Table zu einer grotesken Institution verkehrt. Die Familie ist ein erzwungenes Bündnis; geredet wird selten und wenn, dann nur um einen Gefallen zu erbitten. Ist nicht zu ändern, lass mich in Ruhe essen. Später, nachdem Noriko ihren Sinnen in Tokyo gefolgt ist, lernt sie ein Mädchen kennen, das alsbald ihre Mentorin wird. Sie hat ebenfalls eine Familie. Aber eine, die so sehr in ihrem Glück verrannt und verdreht ist, dass sich irgendwann zwangsläufig ein Wirbel verhaken muss, sodass sie sich nie wieder gerade aufrichten können wird. In dieser Familie ist der Tod ein Scherz, er wird als Schabernack vorgetäuscht. Hach, was haben wir gelacht.
Noriko und auch ihre Schwester, die ihr irgendwann nachkommt, sie steigen in den Suicide Circle ein und verändern ihre Identität. Sie ändern ihre Namen, ihr Aussehen, ihre Erinnerungen, um ihrer inneren Trauer zu entfliehen. Sie sind „verloren in der Reflektion“. Sie sind verloren in der Hülle ihrer selbst; sie versuchen hinter sie zu gelangen, entdecken dabei aber nichts, was ihre inneren Bedürfnisse befriedigen würde. Ein Blick auf sich selbst ist ein Blick voller Enttäuschung. Das ist der Grund dafür, dass sich die Mädchen einem neuen Leben hingeben. In einer abgewandelten Form der Prostitution finden sie ihre Aufgabe - sie spielen ihren Kunden für eine Stunde vor, deren Töchter zu sein. Der Vater der Familie lernt seine Töchter dabei erst so richtig kennen, als sie schon lange weg sind. Er bereut und geht daran zu Grunde.
„Weinen ist die einfachste Form des Schauspiels.“
Sono wagt sich dabei extrem nah an seine Hauptfiguren heran; er ist nur Zentimeter von den Augen, den Fingern, den Bildschirmen und Brillen entfernt. Zu Beginn buffert ein Kreis auf der Seite haikyo.com und umkreist damit genau Norikos Iris. Hiermit zeichnet Sono ihren mechanischen, irrationalen aber unbedingten Drang, die Website zu erforschen und legt den Grundstein für die Mechanisierung und Entmenschlichung der japanischen Gesellschaft. Japan ist ein Land mit immens hohem Leistungsdruck auf die Gesellschaft und Sono greift das auch auf, indem er einen Fötus im Bauch zeigt, während die Organe um ihn herum arbeiten - zu zisch und pump-Geräuschen der Industrie. Sono zeigt eine bedrohte Gesellschaft, bedroht von sich selbst, von ihrer unbeabsichtigten Inkompetenz und ihrem Unvermögen, mit Enttäuschung umzugehen. Lieber sterben, als sich selbst etwas eingestehen. Die Menschen sind hier entweder gelähmt und wandeln wie Zombies durch die Natur, oder sie sind am Ausrasten und stechen alles ab, was sich in ihr Blickfeld traut.
Geschickt spielt der Regisseur mit seinem Figuren-Arsenal aus Erzählerinnen und Erzählern. Er lässt alle ihre Ansichten schildern, auch wenn diese später als romantisiert oder falsch, als Lüge oder Täuschung herausgestellt werden. Erzählt wird dabei eine Coming-of-Age-Geschichte über alle Altersebenen gleichzeitig; alle sind hier kindisch, alle müssen erwachsen werden. Alle müssen den Mut finden, Liebe zu geben. Die vielen persönlichen Erzähler falten den Film dabei interessant auf und erschaffen eine dramaturgische Sogwirkung, die auf zweieinhalb Stunden mit Faszination funktioniert. Eine trockene Analyse dieser Dramaturgie wird wohl noch einige Sichtungen dauern; für die erste Sichtung darf man mit der Magie des Films zufrieden sein. Denn auch wenn hier zweieinhalb Stunden lang Menschen keine Nähe zulassen können, wenn die Figuren hier alle zärtlichen und menschlichen Züge verlieren, funktioniert der Film hervorragend. Magie muss ja nicht schön sein.