Nicht erst seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine, der am 24. Februar dieses Jahres begann, beherrscht der amtierende russische Präsident Vladimir Putin die internationalen Schlagzeilen. Bereits im Sommer 2020 lenkte der Giftanschlag auf den Oppositionsführer Alexei Anatoljewitsch Nawalny die weltweite Aufmerksamkeit in Richtung Kreml. Die Aufnahmen, wie Putins schärfster Kritiker auf dem Rückflug vom sibirischen Tomsk in die russische Hauptstadt Moskau auf einer Bordtoilette markerschütternd wehklagt, gingen damals um die Welt und sorgten für haltloses Entsetzen. Dank einer Notlandung in Omsk, konnte Alexei Nawalny aber noch rechtzeitig medizinische Hilfe zuteilwerden. Während das Kreml-Regime jegliche Verwicklung in den Vorfall bis heute bestreitet, wurden bei der Behandlung in der Berliner Charité Spurenelemente des Nervenkampfstoffs Nowitschok entdeckt. Ein Toxin, das schon zu Sowjetzeiten als nicht nachweisbar galt, laut der Tagline des Dokumentarfilms Nawalny aber trotzdem eine Spur hinterlässt.
Auf eben diese begab sich Alexei Nawalny selbst, als er sich zur Rehabilitierung in Deutschland im Schwarzwald aufhielt. Dabei stets an seiner Seite: Daniel Roher. Fünf Monate lang begleitete der kanadische Dokumentarfilmer Russlands bekanntesten Oppositionellen, wie dieser mit seiner Familie und einem Investigativteam die Fährte der Hintermänner des russischen Geheimdiensts FSB aufnahm. Jener Täter, die ihn schon seit der Präsidentsschaftskandidatur 2017 großflächig beschattet, im Sommer 2020 zugeschlagen hatten und welche Nawalny schlussendlich sogar ausfindig machen konnte. Der Film, der dabei entstanden ist, wurde bereits beim Sundance Film Festival gezeigt, wo ihn der Nachrichtensender CNN und Warner für den Streamingdienst HBO Max erwarben. Doch aufgrund der aktuellen Lage in Europa und in der Welt, entschloss man sich, den Film statt nur in den Stream auch in die Kinos zu bringen, in den USA sogar im Rahmen einer Sonderaktion mit anschließender Podiumsdiskussion. Ausschlaggebend dafür dürfte allerdings auch gewesen sein, dass Nawalny, der seit seiner Rückkehr nach Russland im Januar 2021 im Straflager Pokrow nahe Moskau inhaftiert ist, erst vor wenigen Wochen erneut verurteilt wurde und nunmehr eine Strafe von stolzen dreizehneinhalb Jahren zu verbüßen hat. So ist Nawalny nicht zuletzt auch ein Film, der jemandem, den der Kreml erst für immer verstummen lassen und dann mundtot machen wollte, nun an seiner Statt eine Stimme verleiht.
Unter Umständen macht gerade aber das den Dokumentarfilm auch zu einer durchaus zwiespältigen Angelegenheit, denn Daniel Roher liefert hier mitnichten das ab, was man aufgrund des Titels erwarten könnte: nämlich ein typisches Porträt des Mannes und Politikers, der in den Interviews ausgesprochen souverän, pragmatisch und unerschrocken auftritt. Dabei lehnt Alexei Nawalny selbst es schon gleich zu Beginn entschieden ab, dass man einen „langweiligen Erinnerungsfilm“ über ihn macht für den Fall, dass er danach vielleicht doch noch aus dem Weg geräumt würde. Stattdessen solle man seine Geschichte mehr wie einen Thriller erzählen. Und in der Tat kann man sich Nawalny durchaus als dokumentarische Steilvorlage für einen neuen Streifen von Oliver Stone vorstellen, wie es schon bei Citizenfour und dem Spielfilm Snowden mit Joseph Gordon-Levitt wenige Jahre später der Fall war. Doch ist Daniel Roher hierbei auch klar weniger daran gelegen, Alexei Nawalny als Politiker, sondern viel eher als Mensch zu zeichnen, was ihm jedoch nur bedingt gelingt. Zwar gewährt die stets präsente Kamera durchaus persönliche Einblicke, wenn er mit seinen Kindern oder Ehefrau Yulia gezeigt wird oder aber immer wieder ganz lässig den Ego-Shooter "Call of Duty" auf dem Handy spielt, wirklich greifbar wird die Persona Nawalny dabei aber nie so richtig.
Noch eine ganze Ecke vager bleibt er aber auch als Akteur auf der politischen Bühne. Fast über anderthalb Dekaden lang hat Nawalny Präsident Putin in Russland Paroli geboten, begründete eine Anti-Korruptionsbewegung, wurde zigfach verhaftet, betrieb auf einem Youtube-Kanal investigativen Enthüllungsjournalismus. Dass er sich während dieser Laufbahn einen Ruf aufgebaut hat, der ihn aber auch über die politischen Lager hinweg zu einer Reizfigur gemacht hat, streift der Film allenfalls. Wo Nawalny sich reichhaltig an Bildern aus dem russischen Staatsfernsehen bedient, in dem der politische Gegner in Talksendungen als „drogensüchtige Marionette des US-Geheimdiensts CIA und der Nato“ bezeichnet wird und sogar Szenen aus Pressekonferenzen eingestreut werden, in denen Präsident Putin seinen Widersacher konsequent nicht direkt beim Namen nennt, finden sich kaum gegensätzliche Stimmen. Etwa solche, die verdeutlichen, dass Nawalny selbst in Reihen der Opposition nicht gänzlich unumstritten ist, mitunter als Provokateur oder sogar „gesteuerter Oppositioneller“ angesehen wird, weil er zuvor vergleichsweise milde Gefängnisstrafen abzusitzen hatte. Obendrein stellt es der Film auch so dar, dass Alexei Nawalny auf den Straßen Moskaus zu großen Teilen auf Zustimmung trifft, wobei besonders die Momente, in denen Demonstranten auf offener Straße kurzerhand festgenommen werden, sobald sie sich mit diesem solidarisieren, einem geradezu schmerzhaft aus tagesaktuellen Nachrichtenbildern nur allzu bekannt vorkommen dürften.So beschränkt sich Nawalny in erster Linie darauf, seinen aufrechten Titelhelden als jemanden zu zeichnen, der dem Kreml mit seiner Anti-Korruptionskampagne den Kampf angesagt hat. Wofür der 45-jährige gelernte Jurist jedoch darüber hinaus selbst eintritt, wo genau er auf dem politischen Spektrum zu verorten ist oder aber, dass er dabei auch bereits mit der nationalpolitischen Rechten angebandelt hat, davon erzählt Rohers Film entweder nur flüchtig oder schlichtweg gar nicht. Das Hauptaugenmerk liegt aber ohnehin woanders.
Und so lohnt es sich durchaus, Nawalny nicht nur als Polit-Thriller, sondern mehr als Detektivfilm darüber zu betrachten, wie Alexei Nawalny die FSB-Hintermänner aufspürte. Hier entwickelt die Dokumentation dann auch tatsächlich die notwendige Intensität, die diese Art von Spannungskino ausmacht. So ist der unbestreitbare Höhepunkt des Films die Entstehung jenes Videos, das im Dezember 2020 in Windeseile viral ging und Nawalny dabei zeigt, wie er unter falschem Namen einen der Hauptverantwortlichen hinter dem Giftanschlag ans Telefon bekommt. Wenn der Geheimdienstler und mutmaßliche FSB-Offizier Konstantin Borissowitsch Kudrjawzew in einem Anfall grenzenloser Torheit tatsächlich haarklein den genauen Tathergang ausposaunt, ist die Anspannung von Nawalnys Team um ihn herum regelrecht spürbar, ehe sie von schierer Fassungslosigkeit abgelöst und überrollt wird. Szenen, die selbst im Abspann sogar noch mit aktueller Sprengkraft nachhallen, wenn darauf verwiesen wird, dass Kudrjawzew seit dieser Auskunft, die für ihn dem Unterschreiben eines Todesurteils gleichgekommen sein muss, bis heute als wie vom Erdboden verschluckt gilt.
Glücklicherweise erweitert Nawalny hier den Fokus der Erzählung über seinen Protagonisten und dehnt ihn aus, etwa auf den bulgarischen Journalisten Christo Grozev, der diesen Coup zusammen mit seinem Investigativnetzwerk "Bellingcat" überhaupt erst möglich gemacht hat. Der darf sich hier erst ganz unironisch als „Computernerd“ vorstellen, ehe er schildert, wie er die Telefondaten der Attentäter aus dem Dark Net erworben hatte, wo sie von unterbezahlten IT-Spezialisten zum Verkauf angeboten worden waren. Daten, die für Grozev in Zeiten von Fake News, Propaganda und gezielter Desinformation eine eindeutigere, klarere Sprache sprechen als Menschen. Als zwischenmenschlicher Fixpunkt hingegen erweist sich hingegen auch Nawalnys Ehefrau Yulia, deren Hartnäckigkeit selbst dann nicht zum Erliegen kommt, als sie in Handyvideos von der Notaufnahme eines russischen Krankenhauses mehr von uniformierten Staatsbeamten als Ärzten umgeben ist, von denen der Chefmediziner wenig später bei einem Fernsehauftritt weißmachen darf, dass ihr Ehemann lediglich an einer Stoffwechselstörung bzw. Unterzuckerung leiden würde.
Von allen Rednern. Experten und Mitstreitern, die zu Wort kommen, scheint aber selbst nach 100 Minuten ausgerechnet Alexei Nawalny selbst derjenige zu sein, der am schwersten einzuschätzen ist. Er wirkt in den Gesprächen stets gefasst und strahlt zweifellos ein gewisses Charisma aus. Sogar etwas Galgenhumor lässt er durchscheinen, wenn er einmal trocken kommentiert, dass Vergiften doch so altmodisch sei und Erschießen dagegen viel konsequenter. Immer wieder gewinnt man den Eindruck, dass Russlands Opposition mit ihm jemanden an seiner Spitze hat, der oft sehr genau zu wissen scheint, wie er herüberkommen muss, um Eindruck zu hinterlassen und wie man soziale Netzwerke wie Youtube, Twitter, Instagram oder auch Tiktok und deren Algorithmen effektiv bespielt. Etwas, dass vielleicht womöglich eine Antwort darauf gibt, wieso Nawalny sich am 17. Januar 2021 zurück in die Heimat begab, wohl wissend, dass er einen viralen Medienrummel, angeführt von zahllosen Smartphones an Bord seines Rückflugs, hinter sich hatte, der ihm auch dann noch gewiss war, als er bereits am Flughafen noch vor der Passkontrolle verhaftet wurde.
Dennoch kann man Alexei Nawalny wohl eines nicht absprechen: seine Entschlossenheit, seinen Patriotismus und den klaren Appell an die russischen Landsleute. Dieser konnte selbst in der Strafhaft nicht unterdrückt werden , wo er via Social Media tagtäglich zu landesweiten Protesten gegen den Krieg in der Ukraine aufrief, ehe das Putin-Regime die meisten Dienste landesweit abschalten ließ. So ist vermutlich die vielsagendste Äußerung in Nalwalny ein bekanntes Zitat des irisch-britischen Schriftstellers Edmund Burke: "Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun!"