Inhalt
Im Chicago der 1920er Jahre hintergeht und tötet Tony Camonte zunächst seinen Boss, einen alteingesessenen Bierbaron mitten in der Prohibition, im Auftrag seines neuen Brötchengebers, um sich schnell auch über dessen Befehlsgewalt hinwegzusetzen. Bestrebt, selbst bald an der Spitze des organisierten Verbrechens zu stehen, legt er sich mit jedem Konkurrenten an und entfacht einen blutrüstigen Bandenkrieg, dessen Folgen unweigerlich irgendwann auf ihn zurückfallen müssen.
Kritik
„Tu es zuerst, tu es selbst und hör‘ nicht auf es zu tun!“
Mit Narbengesicht erschuf Regie-Legende Howard Hawks (Das Ding aus einer anderen Welt) sowas wie den Prototyp des amerikanischen Gangsterfilms. Zu einem ungewöhnlich frühen Zeitpunkt. Bereits 1930 fertiggestellt, aber erst 1932 nach einigen Nachdrehs uraufgeführt (aufgrund der direkten Gewaltdarstellung ging man lieber auf Nummer sicher), als die Prohibition in den USA noch Bestand hatte und das organisierte Verbrechen durch sie auf einem absoluten Höhepunkt. Selbst Al Capone – der grob für die Hauptfigur Pate stand – wurde erst in der Zwischenzeit aus dem Verkehr gezogen. Viel brisanter und somit gewagter in seinem aktuellen Zeitbezug kann ein Gangsterfilm kaum sein.
Erzählt wird eigentlich die Geschichte des American Dream. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten soll es jeder mit einer Vision und genügend Ehrgeiz zu Etwas bringen. Das Glück liegt dir zu Füßen, das Schicksal in deiner Hand, The World is Yours. Dennoch wird gleich zu Beginn eindringlich vor der Verwerflichkeit des Gezeigten gewarnt, sogar als direkte Anklage gegen das Versagen von Justiz und Regierung verpackt, den akuten zeitlichen Kontext betrachtet nicht ganz unverständlich. Der Inhalt soll abschrecken und doch ist Tony Camonte (Paul Muni, Ich bin ein entflohener Kettensträfling) das unumstrittene Zentrum der gesamten Handlung. Anstatt nach klassischem Erzählmuster eine Heldenfigur mit Identifikations- und Symathiepotential zu installieren, bleibt Narbengesicht der Trauermarsch eines skrupell- und gewissenlosen Soziopathen, eines Kriminellen aus Leidenschaft, voller Hochmut und dem Streben alles und jeden immer kontrollieren und dominieren zu können/zu müssen.
Ein nimmersattes Raubtier, ein Vielfraß auf dem Weg nach oben, so wie es die Gesellschaft über die er herfällt es ihm mit ihren pathetischen Idealen und dem Märchen vom eifrigen Arbeiter zum Lebemann doch eigentlich nur vorgibt. Greif nach den Sternen, nimm dir was du willst bevor es jemand vor dir tut, denn Erfolg und Stärke definiert sich in erster Linie darüber, wie schwach und hilflos die anderen sind. Mit hoher Detailversessenheit und für seinen Jahrgang gar erstaunlichem Aufwand bei der Inszenierung roher, fast brachialer Actionszenen (kurz zuvor war Stummfilm noch Standard) gelingt Howard Hawks Kino an der Endstufe seiner damaligen Möglichkeiten, das zudem ein hohes Risiko fährt. Trotz seiner moralischen Belehrung und somit klaren Positionierung was die Definition von „Gut“ und „Böse“ betrifft könnte sein Protagonist durchaus versehentlich zum Anti-Helden gemacht werden. Schließlich ist man gezwungen nur ihm und seinem unweigerlichen Untergang intensiv zu folgen. Herbeigeführt natürlich von ihm, vollstreckt von außen, von „Gegner“, wie er und somit auch wir sie betrachten müssen.
Ein Mitfiebern, ein geheimer Schulterschluss mit dem Bösen ist da nicht ausgeschlossen, wobei der Film klar viel dafür tut, keinerlei Romantisierung oder gar Glorifizierung zu betreiben. Dies gelingt, da Narbengesicht seinen Ambivalenz-Gehalt bewusst zurückschraubt, aber lobenswerter Weise nicht ganz beiseitelegt. Tony Camonte ist und bleibt ein widerlicher Zeitgenosse, ein Albtraum für jeden Rechtsstaat und alles, was eine gesunde, friedvolle und humanitäre Gesellschaft ausmacht. Aber er bleibt trotzdem ein Mensch. Kein guter, womöglich ein schwer gestörter, der unabhängig davon doch noch so was wie zwischenmenschliche Gefühle hat, auch wenn sie erst (zu) spät aus ihm herausbrechen dürfen. Wie in dem fantastischen Showdown, der wie praktisch alle wichtigen Eckpfeiler des Plots 50 Jahre später von Brian De Palma und Oliver Stone in ihrem Remake Scarface aufgegriffen und lediglich größer und wuchtiger gestaltet wurden. Zwar ist deren Film nicht nur aufgrund der immensen Durchschlagskraft, sondern besonders wegen des intensiveren Figurenprofils und seiner popkulturellen Bedeutung heute (zurecht) die größere Rampensau, aber der Grundstein wurde unverkennbar hier gelegt.
Wie für so viele Filme des Genres, das ohne Narbengesicht sich höchstwahrscheinlich nicht so entwickelt hätte, ihn bis heute fleißig zitiert und immer wieder kleine Hommagen zollt (der erste Auftritt von Robert De Niro alias Al Capone in The Untouchables – zufällig von einem gewissen Brian De Palma – ist praktisch so auch die erste „Gesichtsszene“ von Paul Muni). Das der Ablauf nicht mehr überraschen kann ist somit logisch und frei von jeder Kritik, dass Hauptdarsteller Paul Muni oft noch typische Bühnen- und Stummfilm Manierismen an den Tag legt muss der Zeit und seiner Unerfahrenheit geschuldet werden, ein deutlicher Störfaktor bleiben die überflüssigen und im krassen Kontrast zum gewalttätigen und realistischen Inhalt stehenden Humorausrutscher, für die Gott sei Dank ausschließlich der geistig stark schwächelnde Trottel-Scherge a.k.a. „Sekretär“ herhalten muss, was diese deutlich einschränkt.
Fazit
Ein für seine Zeit bahnbrechender und bis heute noch höchst relevanter Klassiker der Kinogeschichte, der sich einiges traute und dadurch eine Basis schuf, auf der seit dem eifrig aufgebaut wird. Inszenatorisch grandios, sehr rabiat in seiner Ausrichtung, nur die dusselige (leider bewusst entschärfende) Verwässerung durch Kasper-Humor hätte es wahrlich nicht gebraucht. Zumindest aus heutiger Sicht.
Autor: Jacko Kunze