Wenn das Leben einem durch die Finger rinnt wie feinkörniger Sand, bemerkt man erst, welche Chancen man verpasst hat und welche Erfahrungen einem noch fehlen. Weiße Flecken auf der Landkarte des Lebens, die ausgemerzt werden müssen, um zufrieden die letzte Reise antreten zu können. Machen wir uns nichts vor, die wenigsten von uns werden in reinster Erfüllung dahinsiechen, aber die romantische Vorstellung davon ist schön und raubt dem Tod auch einiges von seinem endlosen Schrecken.
Die sogenannte Bucket List, also eine Auflistung der Dinge, die man vor seinem Ableben noch erleben will, ist ein Konzept, über das wahrscheinlich viele von uns bereits nachgedacht haben. Vielleicht angeregt durch Filme wie Das Beste kommt zum Schluss. In dieser Tragikomödie mit den beiden Oscar-Preisträgern Jack Nicholsonund Morgan Freeman geht es genau darum: Das Verpasste nachholen, solange der Sensenmann nur vor der Tür steht, aber noch nicht wirklich angeklopft hat.
Die französische Tragikomödie Das Zimmer der Wunder verdreht diesen Ansatz. In dem Film von Lisa Azuelos (LOL - Laughing Out Loud) gibt es zwar auch eine Bucket List, die jedoch keinem Senior gehört, sondern dem zwölfjährigen Louis, der seine Wünsche in sein Tagebuch geschrieben hat, um für sein zukünftiges Leben ein paar Aufgaben zu haben. Nach einem Unfall liegt der Junge jedoch im Koma. Seine verzweifelte Mutter beschließt nach einigen Wochen ohne Verbesserung seines Zustands, dass sie für ihn seine Träume erleben wird. So schwimmt sie nicht nur mit Walen und düst mit einem Skateboard steile Bergpisten hinab, sondern betastet auch die Oberweite von Louis' Mathematiklehrerin. Typisch Jungs.
Die eigentliche Grundidee, der Das Zimmer der Wunder folgt, ist gar nicht mal schlecht. Es erlaubt die Frage nach dem Glück und der Zufriedenheit im eigenen Leben aufzufächern. Denn was Louis' Mutter Thelma hier versucht, mag lieb und nett klingen. Eigentlich ist es jedoch die pure Verzweiflung einer Frau, die nicht mehr weiter weiß, außer an die titelgebenden Wunder zu hoffen. Ein letzter Rettungsring im tobenden Meer der Trauer und Machtlosigkeit. Thelma ergreift ihn und erlebt dadurch diverse prägende Momente. Diese bringen sie einer wahren Lösung nicht näher, aber sie schärfen ihre Akzeptanz für die tragische Situation.
Regisseurin Lisa Azuelos vertraut allerdings nur hin und wieder auf diese dramaturgisch eher niederschmetternde Sichtweise. Viel mehr erschafft sie mit ihrem Film einen einheitlichen Ergriffenheitspomp, bei dem es Momente gibt, die sich in fast schon trivialen Lappalien suhlen. Irgendwann kommt die Vermutung auf, dass Das Zimmer der Wunder mit ein paar Schnitten an den richtigen Stellen wirken würde wie eine bitterböse Posse über eine Mutter, die das Koma ihres Sohnes dafür nutzt, endlich mal wieder alleine ein paar Abenteuer zu erleben. Wer kennt es nicht? Mit schulpflichtigen Kindern ist es schwer und teuer, den richtig tollen Urlaub zu buchen.
Ja, das war alles etwas anmaßend beschrieben, aber es fällt tatsächlich auf, dass der Film die echten spannenden Fragen und Ansätze irgendwann sehr klar in die hinterste Ecke schiebt und versucht, Feel-Good-Wischiwaschi-Unterhaltung zu erzeugen, die der Tragik und Tragweite der eigentlichen Geschichte mehr im Wege steht, als dass sie ihnen nutzt. Da werden dann auch Dinge stellenweise so vereinfacht, dass es gar nicht mehr wirklich den Eindruck erweckt, als ob hier mehr dargeboten werden soll, als ein biederes Reisetagebuch.
Dabei ist der Beginn doch sehr geerdet. Thelma wirkt als Figur echt und nahbar. Doch nach und nach löst sich das auf, eben auch weil das Drumherum gegen Postkartenidyll und dramaturgische Vereinfachungen ausgetauscht wird. Manche Entwicklungen, die das Drehbuch am Ende auftischt, wirken sogar wie aus dem Hut gezaubert. Da verwandeln sich Alltäglichkeiten wie Unzufriedenheit im Job plötzlich zu großen Handlungspunkten, die aber erst in den letzten Minuten thematisiert werden. Es ist der Zwang, dem Publikum es so elendig einfach zu machen, dass selbst das Blinzeln dirigiert wird.
Die alleinerziehende Mutter, die übrigens trotz aller Kritik ganz wundervoll von Alexandra Lamys (Liebe bringt alles ins Rollen) umwerfender Präsenz gesegnet wird, findet zu sich selbst. Das ist an sich ja eine nette Geschichte, aber selbst wenn außer Acht gelassen wird, warum und wie sie zu sich selbst findet, hat Das Zimmer der Wunder gehörige Probleme bei der Darbietung seines, irgendwann recht episodisch strukturierten Plots.
Thelmas klischeereiche Reise nach Japan, wo sie auf der Suche nach einem mysteriösen Mangaka ist, nimmt zum Beispiel zu viel Raum innerhalb des Films ein. Es wirkt wie ein hineinmontierter Kurzfilm, der im Grunde keine wirklich brauchbaren Fortschritte mit sich bringt. Ein netter Tapetenwechsel? Definitiv, aber kein überzeugend progressiver Beitrag zur eigentlichen Handlung, die unglaublich reizvoll bleibt, aber irgendwann nur als Scheinheilige-Motivation dient, um teils esoterisch angehauchte Tourismusempfehlungen abzugeben.