1986 gelang Hector Babenco (Wolfsmilch) mit seiner Romanverfilmung Kuss der Spinnenfrau ein Novum in der Geschichte der Academy-Awards: Erstmals wurde eine Independent-Produktion – zudem eine nicht rein US-amerikanische – in den vier Hauptkategorien für Film, Regie, Drehbuch und Hauptdarsteller nominiert. Das am Ende dabei „nur“ eine Trophäe für William Hurt (The First Avenger: Civil War) heraussprang lässt sich aufgrund dieser kleinen Revolution in der sonst wenig über den eigenen Tellerrand schauenden, selbstbestimmten Elite der Hollywood-Eingesessenen verschmerzen.
Zwei Männer teilen sich eine Gefängniszelle in einem nicht näher definierten, lateinamerikanischen Land. Luis Molina (Hurt) ist ein homosexueller Schaufensterdekorateur, der wegen Verführung eines Minderjährigen verurteilt wurde. Sein Zellengenosse Valentin Arregui (Raul Julia; Die Addams Family) ein Journalist, der als Mitglied einer Regierungs-feindlichen Untergrundorganisation inhaftiert ist. Unterschiedlicher könnten die beiden Männer kaum sein. Während Luis sich wenig bis gar nicht für das interessiert, was um ihn herum geschieht, hat Valentin alles dem Kampf gegen das totalitäre Regime untergeordnet und ist bereit, für die gute Sache ans Äußerste zu gehen. Auch wenn es sein eigenes Leben kosten könnte. Luis sitzt seine Zeit ab und hofft auf die minimale Chance einer vorzeitigen Begnadigung, Valentin wird als politischer Gefangener fast täglich aufs Schlimmste gefoltert, um seine Verbindungen preiszugeben. Um Konversation zu betreiben und von der grausamen Realität abzulenken erzählt Luis auf blumige Art und Weise seine Lieblingsfilme nach. Ganz besonders einen Nazi-Propaganda-Film, an dem er nur die tragisch-romantische Liebesgeschichte in den Vordergrund stellt, während Valentin natürlich dessen eigentliche Intention nicht ignorieren kann.
Anhand dieses relativ viel Zeit einnehmenden Film im Film werden ihre gegenpoligen Einstellungen zum Leben und ihr Umgang mit der Realität unmittelbar gegenüber gestellt. Luis blendet alles aus was ihn verschrecken könnte und zur ernsthaften Auseinandersetzung zwingt. Zieht sich an einer verklärenden Romantik hoch, flüchtet sich in seine Fantasie. Hat die Scheuklappen so fest angezogen, dass man ihn für seine weltfremde Art bedauern oder bewundern könnte. Valentin ist das exakte Gegenteil. Ein Realist, Idealist und Freiheitskämpfer, der sich nicht mit der Ungerechtigkeit arrangieren kann und will, sogar seinen Status als Mitglied der bevorzugten Oberschicht uneigennützig geopfert hat um nun in diesem Loch zu verrecken. Denn unabhängig davon, ob seine Standhaftigkeit den Widerstand entscheidend voranbringt, er persönlich wird davon nicht mehr profitieren, was ihm eindeutig bewusst ist. Er will kein Märtyrer sein, aber er sieht keine andere Möglichkeit.
Über weite Strecken wie ein Kammerspiel vorgetragen mausert sich Kuss der Spinnenfrau zu einer Mischung aus Charakterstudie und Polit-Thriller-Parabel, deren Entwicklung unmittelbar mit der ihrer Figuren gekoppelt ist. Wunderbar festzumachen besonders am Spiel von William Hurt, dessen Drag-Queen-Gehabe zu Beginn fast übertrieben erscheint, sich im klug aufgebauten Gesamtkontext aber scheibchenweise entblättert und als schützende Maske enttarnt wird, von der am Ende kaum noch etwas übrig ist. Seine Realitäts-Flucht endet so radikal und logisch wie die Verbissenheit von dem ebenfalls großartigen Raul Julia in der Rolle des Valentin (ursprünglich sollten Hurt und Julia den jeweils anderen Part spielen, erst kurz vor Drehbeginn kam es zu der spontanen Umbesetzung), der sich zwar nicht idealistische verbiegen lässt, aber nun nicht mehr die Augen vor seinen Emotionen verschließt. Das der (politische) Handlungsort weder als fiktiv noch als genau katalogisiert verwendet wird, ist nicht etwa inkonsequent, sondern gibt dem Film einen ähnlich zeit- und ortunabhängigen Rahmen wie z.B. Polanski's Der Tod und das Mädchen. Es besitzt keine Relevanz und unterstützt dessen bis heute leider allgemein übertragbare Mahnung. Besonders in Zeiten, wenn in gewissen Ländern Folter als angemessene Methode mal so am Rande wieder ins Gespräch gebracht wird.
Am Ende ist Kuss der Spinnenfrau vielleicht ein klitzekleines Stück zu weit drüber was den radikalen Twist seiner Figuren betrifft, den intelligenten und bewegenden Moment mag das nur minimal trüben. Selbst die isoliert betrachtet heillos kitschige Schlusseinstellung fügt sich in das Gesamtbild exzellent ein. Der Abschluss eines Prozesses, der beiden nicht mehr die Freiheit im rationalen Sinn geben kann, aber eine Form der Erlösung. Die Welt konnten sie nicht verändern, aber entscheidend sich selbst und für beide ist es - unabhängig von den nackten Fakten - der richtige Weg. So absurd das anhand des Gezeigten klingen mag.