Inhalt
Visagistin Kika lebt seit drei Jahren mit Ramón zusammen. Plötzlich steht dessen Stiefvater Nicholas völlig abgebrannt vor ihrer Tür. Ramón bietet ihm an, in sein Studio über ihrer Wohnung einzuziehen. Dabei haben beide durchaus Probleme mit Nicholas: Ramón ist sich nicht sicher, welche Rolle er beim Selbstmord seiner Mutter spielte und Kika hatte einst ein Verhältnis mit ihm – was Ramón nicht weiß. Richtig turbulent wird es jedoch erst, als noch eine gierige Sensationsreporterin und ein psychopathischer Vergewaltiger unverhofft mitmischen…
Kritik
Bei seinem 11. Spielfilm kehrt Pedro Almodóvar gefühlt wieder zu seinen Anfängen zurück. Zwar hatte er sich 1993 wenigstens in Europa längst den Ruf eines ernstzunehmenden und international schon hoch dekorierten Filmemacher erarbeitet, seinen radikalen Guerilla-Stil dabei jedoch nie aufgegeben. Nur seit Matador (1986) stetig verfeinert. Ab da wirkten seine Filme nicht mehr wie Low-Budget-Exzesse eines hochintelligenten, spielfreudigen und manchmal schlicht ausgeflippten Paradiesvogel, für den Etikette und Tabus nur Herausforderungen darstellten, die es mit Karacho in den Boden zu stampfen galt. Extravagant, angriffslustig und diskussionswürdig blieben alle seine Werke, aber eben deutlich verbessert, nicht nur handwerklich. Der Plot und die eigentliche Handlung wirkten wesentlich ausgereifter und Almodóvar zeichnete sich plötzlich sogar mitunter als extrem guter Thriller-Regisseur aus. Auch Kika leiht sich Elemente eines Psychothrillers sehr bewusst aus.
Im Schlussdrittel wird Hitchcock nicht nur zitiert (Das Fenster zum Hof), gen Ende wird der Originalscore von Psycho (nicht die berühmten Streicher, sondern „der Rest“ von Bernard Herrmann) sogar einfach mal so auf die Tonspur gehauen. Obwohl er mit diesem Film sonst eigentlich nichts gemein hat. Ist ja auch wurscht, denn Unordnung und Spontanität, Chaos und Intuition sind hier der Taktgeber. Kika hat schon ein Konzept und eine lineare Geschichte, folgte aber überhaupt gar keiner konventionellen Regel. Versucht lediglich offensiv jede zu brechen, die ihm unter die Flinte kommt. Komplizierte Beziehungen, keine Scheu vor Tabubrüchen, garstige Medienschelte und dabei immer um die Kontroverse bemüht, das ist der Film in der Kurzform. Dabei aber in keinem Punkt so richtig konsequent. Außer vielleicht beim Tabubruch, aber das macht der Pedro auch schlicht zu gerne. Alles, was besonders in einer Hollywood-Produktion bloß niemals (in so einem Kontext) stattfinden dürfte, ist hier ein gefundenes Fressen. Vor einem extrem schrillen, farbenfrohen Setdesign geht es vulgär und provokant bis auf Kante zu. Inzest, Vergewaltigung, Pädophilie, Perversion – nicht ist zu grausam, als es nicht ins Lächerliche zu ziehen.
Almodóvar feuert dabei hemmungslos aus allen Rohren. Das sorgt für teilweise schon brillant-absurde Momente, das dazu eine Vergewaltigung zählt ist natürlich – egal, wie offensiv man mit seiner generellen Interpretation ins Haus fällt – wenigstens schwierig. Bagatellisierung geistert schon durch den Raum. Kika ist so drüber und rigoros, dass er eben wieder an die skurrilen Frühwerke seines Regisseurs erinnert. Inzwischen hat er sich mehrfach einfach als so vielschichtiger und versierter erwiesen, dass es gefühlt ein Schritt zurück ist. Damals musste er so auf den Putz hauen, um bemerkt zu werden. Jetzt, also 1993, war er schon voll im Fokus. Diesen Wahnsinn wiederzubeleben hat absolut seinen Reiz, keine Frage. Sieht freilich bedeutend besser aus als noch Anfang der 80er und beinhaltet gute Einfälle, die aber auch nicht bis zum Ende durchdacht wirken. Da fahren die kreativen Synapsen eines unbändigen Filmgenies ungebremst Achterbahn und erschaffen einen wahren Amoklauf gegen den guten Geschmack, verpackt in halbseidene, da auch nie richtig griffige, fundierte Mediensatire. Am Ende dennoch so verrückt-ambivalent lebensbejahend. Wenn dich das Schicksal fickt, keep smiling. Gab wohl gutes Koks. Da haben wir unterm Strich dann doch alle was von.
Fazit
„Kika“ ist der Almodóvar-Flashback auf dem technischen Niveau, von dem er damals selbst ihm größten Drogenrausch niemals geträumt hätte. International konkurrenzfähiges Kino – ohne direkte Konkurrenz. Sarkastisch, böse und manchmal schon zu lapidar im Jonglieren mit seinem ganzen Unfug, aber dafür richtig gut gemacht. Ein absolut sehenswerter Grenzgänger, weil sich so was auf der Stufe eigentlich kaum noch jemand traut.
Autor: Jacko Kunze