Das zentrale Motiv von Chantal Akermans Jeanne Dielman ist die Zeit selbst. In ihrem zweiten Spielfilm erzählt die belgische Regisseurin aus dem Leben der titelgebenden Hauptfigur, indem sie den Alltag der belgischen Hausfrau, Mutter und Prostituierten nicht nur in all seiner unscheinbar wirkenden Banalität verfolgt, sondern das Zeitempfinden von Jeanne zusätzlich für den Zuschauer des Films spürbar werden lässt. Hierfür schildert Akerman das Leben ihrer Protagonistin als Abfolge von strikten Routinen, die betont unspektakulär erscheinen, um nach und nach das Bild einer Frau zu kreieren, die sich ihren eigenen Käfig erschaffen hat. Drei Tage aus dem Leben von Jeanne bildet Jeanne Dielman ab, wobei die Regisseurin einzelne Szenen sowie Tagesabläufe der Protagonistin nahezu in Echtzeit durch zahlreiche statische Plansequenzen inszeniert. 201 Minuten ist Akermans Film lang, eine Laufzeit, die den Zuschauer dazu zwingt, den Film vielmehr aushalten zu müssen als einfach nur ansehen zu können und trotzdem 201 Minuten, von denen jede einzelne Minute ihre Daseinsberechtigung für das erschlagende Konzept erhält.
Dabei scheint zunächst noch alles völlig gewöhnlich zu sein, wenn die Handlung des Films am ersten Tag einsetzt und die verschiedenen Tätigkeiten beleuchtet, denen Jeanne nachgeht. Am Morgen nach dem Aufstehen macht die alleinerziehende Mutter Frühstück für sich und ihren Sohn Sylvain. Nachdem dieser aus dem Haus ist, erledigt sie die anderen Hausarbeiten, die regelmäßig anfallen. Sie macht die Betten und den Abwasch und bereitet schon einmal Teile des Abendessens zu. Danach isst sie etwas zu Mittag, geht aus dem Haus, um Einkäufe zu erledigen, verbringt etwas Zeit alleine in einem Café und kehrt nach Hause zurück. In der Zeit, in der die Kartoffeln für das Abendessen auf dem Herd kochen und bevor ihr Sohn ebenfalls nach Hause kommt, empfängt Jeanne fremde Männer in ihrer Wohnung, mit denen sie gegen Bezahlung Sex hat. Es ist die einzige Handlung im Alltag der Hauptfigur, die Akerman zunächst nicht mit der Kamera einfängt.
Zusammen mit Sylvain isst Jeanne schließlich noch zu Abend, wobei das Essen immer zwei Gänge, eine Suppe als Vorspeise und ein Hauptgericht, umfasst. Im Anschluss an das Abendessen, das schon am ersten Tag in der Handlung dieses Films von auffälliger Kälte geprägt ist, so als hätten sich Mutter und Sohn kaum mehr etwas zu sagen, verbringen beide noch etwas Freizeit miteinander. Kurz gehen sie aus dem Haus und spazieren durch die Gegend oder beschäftigen sich zu Hause bei musikalischer Begleitung mit Aktivitäten wie Lesen, bevor die Bettzeit gekommen ist und sich beide schlafen legen. Eine gute Dreiviertelstunde ist in Jeanne Dielman vergangen, als der erste Tag aus dem alltäglichen Leben der Hauptfigur zu Ende ist und die geschilderte Routine am nächsten Morgen wieder von vorne beginnt. Komplett identisch wird Akermans Film am zweiten Tag trotzdem nicht verlaufen. Durch kleine Nuancen gerät die streng kontrollierte Welt von Jeanne, die zunächst so unbedeutend und banal wirkte, aus den Fugen. In einer Szene sind die Kartoffeln für das Abendessen verkocht, wodurch die Protagonistin dazu gezwungen wird, außerhalb ihrer planmäßigen Routine das Haus zu verlassen und einen neuen Sack Kartoffeln zu kaufen.
Es sind geringfügig erscheinende Abweichungen wie diese, die im ebenso hypnotischen wie ungemein auslaugenden Erzählrhythmus von Jeanne Dielman feine Risse entstehen lassen und die Existenz der Hauptfigur gleichzeitig stark ins Wanken bringt. Gemeinsam mit Hauptdarstellerin Delphine Seyrig (Letztes Jahr in Marienbad), die zum damaligen Zeitpunkt der Dreharbeiten eine berühmte Größe im Filmgeschäft war und ihre wortkarge, überwiegend gefühllos wirkende Figur mit einer apathischen Hingabe verkörpert, bei der selbst kleinste Änderungen in ihrer Mimik eine große Unruhe andeuten, enttarnt Akerman, die diesen Film im Alter von gerade einmal 25 Jahren drehte, ihre Protagonistin als stille Leidende, die sich in alltägliche, präzise aufeinander abgestimmte Tätigkeiten flüchtet, um der Leere und dem Stillstand zu entkommen. In der letzten Szene des Films, in der Jeanne mit Blut an den Händen am Tisch sitzt und die Kamera zuvor nicht wegblickt, wenn sie mit einem Mann im Schlafzimmer verschwindet, scheinen sich zum ersten Mal neue Ausdrücke im Gesicht der Hauptfigur abzuzeichnen, bevor die lethargische Ausdruckslosigkeit und stille Verzweiflung zurückkehrt. Ein weiteres Mal scheint die Zeit mit Jeanne stillzustehen und mit ihr auch man selbst.