Inhalt
Jeden Mittwoch besucht Claire einen Barkeeper und ehemaligen Musiker namens Jay, den sie zufällig einmal kennengelernt hat, um in seiner Wohnung Sex zu haben. Nach einem ihrer Treffen folgt er ihr heimlich und findet heraus, dass sie als Schauspielerin in einem Vorstadttheater arbeitet, mit dem Taxifahrer Andy verheiratet ist und einen etwa zehnjährigen Sohn hat. Nachdem Jay mit Andy Bekanntschaft geschlossen hat und Andy hinter die Affäre gekommen ist, eskaliert die Situation.
Kritik
Wie viel Intimität ertragen zwei Fremde? Jay (Mark Rylance, Oscar-prämiert für Bridge of Spies – Der Unterhändler) und Claire (Kerry Fox, Die Weisheit der Krokodile) kennen sich nicht und doch brauchen sie einander, wie die Zeit ihnen beweisen wird. Jeden Mittwoch treffen sie sich in Jays heruntergekommener Wohnung. Sie wechseln kein Wort miteinander, stattdessen ficken sie. Meistens auf dem Fußboden, hart und animalisch. Zwei Körper, deren leidenschaftliche Verschmelzung einen ganz eigenen Kommunikationskanal erschließt. Danach verschwindet Claire wieder in die fahle Kulisse eines Londons Anfang des neuen Jahrtausends. Regisseur Patrice Chéreau (Die Bartholomäusnacht) stammt eigentlich aus dem Theater- und Opernbereich, was man seinem auf der Berlinale mit dem goldenen Bären ausgezeichneten Intimacy durchaus anmerkt. Wie auf der Bühne, geht es auch hier um die unvermittelte Enthüllung seelischer Bedrückungen.
Früher war Jay nicht nur als Musiker aktiv, er hatte auch eine Frau und einen Sohn. Dieses Dasein aber hat er kurzerhand aufgeben. Vermutlich aus dem Grund, weil ihm das Versprechen einer rosigen Zukunft im festen Kreise seiner Liebsten auf Dauer zu gesetzt und zweifelhaft erschien. Inzwischen verdient er sein Geld als zumeist übel gelaunter Manager einer Bar und hat zudem auch die Erkenntnis erlangt, dass das Leben kein Song von The Clash oder David Bowie ist. Alles, was ihm geblieben ist, sind die stummen Rituale, die er mit einer Frau führt, dessen Namen er nicht einmal kennt. Aber das muss er auch nicht, vorerst jedenfalls. Er weiß, wie ihr Körper bebt, wenn sie den Höhepunkt gebracht wird. Er weiß, wie ihr Stöhnen klingt, wenn er sie mit Gewalt gegen die Wand presst. Er weiß, wie sich ihre Lippen anfühlen, wenn sie seinen Penis umschließen.
Das Selbstverständnis ihrer schweigsamen, rein physischen Übereinkunft gerät ins Wanken, als etwas so flüchtiges wie Gefühle ins Spiel kommen. An einen Mittwoch wartet Jay vergebens auf Claire. Schlagartig wird ihm damit gewahr, dass ihre (Nicht-)Beziehung an Erwartungen und Sehnsüchten gebunden ist. Patrice Chéreau, der sich hier auf die autobiographischen Kurzgeschichten von Hanif Kureishi stützt, setzt in seiner Inszenierung auf ein größtmögliches Maß an Naturalismus: Nicht nur setzt er seine Protagonisten fortwährend in Großaufnahmen in Szene, um keine Regung in ihren zumeist steinern erscheinenden Mimen aufzuspüren. Gerade die expliziten Sexszenen, die von der amerikanischen Fachpresse damals zwanghaft zur Kontroverse aufgeblasen wurden, sind von einer ungeschminkten Authentizität gezeichnet, dass selbst Hauptdarsteller Mark Rylance heute zu dem Entschluss kommt, dass es womöglich besser gewesen wäre, in diesem Film niemals mitzuwirken.
Als Zuschauer kann man sich glücklich über sein Engagement schätzen, denn Mark Rylance, seines Zeichens Lieblingsschauspieler von Steven Spielberg, liefert – wie auch Kerry Fox und Timothy Spall (Heartless) in einer Nebenrolle – eine hervorragende Leistung ab. Eben genau deswegen, weil seine Performance so kompromisslos und uneitel ist. Patrice Chéreaus in eisige Fotografien gehüllter Seelenstriptease um zwei Menschen, die in schlechter Gesellschaft sind, wenn sie zu lange mit sich allein gelassen werden, ist eine nach wie vor gültige Geschichte über die bebende Verzweiflung, Nähe in einer durch und durch kalten Welt zu finden. Intimacy versteht das Entkleiden dabei als sinnbildliches Blankziehen, die ausgedehnten Sexszenen sind kein Selbstzweck, um Tabus brechen zu wollen, sondern metaphorisch zu verstehen. Zwei Gestrandete erficken sich einen Sinn in ihrem Leben. Sex wird hier nicht zuletzt deswegen als Kraftakt verstanden.
Fazit
Mit "Intimacy" liefert Regisseur Patrice Chéreau ein eindringliches Porträt zweier Menschen, die in der Anonymität der Großstadt auf der Suche nach Zuneigung und Nähe sind. Durch aufopferungsvoll-freizüge Schauspielleistungen begreift sich "Intimacy" mehr und mehr als in eisige Fotografien gehüllter Seelenstriptease, der seine metaphorischen Sexszenen nicht nur als Geschlechts-, sondern auch als Kraftakt versteht. Als dringend notwendigen Kraftakt, um endlich zurück in das Leben zu finden.
Autor: Pascal Reis