Drei Märchen erzählen von Wünschen und Begehren. Von der Gefahr, die beidem innewohnt, von der Tragik, die eine vermeintliche Erfüllung mit sich bringen kann.
Eine Königin (Salma Hayek, »Der gestiefelte Kater« ) wünscht sich nichts sehnlicher als ein eigenes Kind. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, muss sie das von einer jungfräulichen Dienerin gekochte Herz eines Seeungeheuers essen. Nach nur einer Nacht wird der Königssohn Elias (Christian Lees) geboren, und die Königin ist glücklich. Doch auch die Dienerin bekommt einen Sohn: Jonah (Jonah Lees), der dem Prinzen bis aufs Haar gleicht. Heranwachsend werden die Jungen enge Freunde, aber die eifersüchtige Königin will das nicht zulassen …
Ein anderer König (Toby Jones, »Die Tribute von Panem«) wohnt mit seiner lebenslustigen Tochter Violet (Bebe Cave) auf einem abgelegenen, kargen Schloss. Anstatt die Sehnsüchte seiner Tochter ernstzunehmen, zieht er lieber heimlich einen zahmen Floh bis auf Hammelgröße heran. Als das Tier stirbt und Violet endlich einen Ehemann haben möchte, trifft ihr Vater eine folgenschwere Entscheidung für das Auswahlverfahren ihres Zukünftigen …
Und schließlich ist da noch der dritte König (Vincent Cassel, »Black Swan« ), ein notorischer Schürzenjäger, der sich in den Gesang einer zauberhaften Stimme verliebt. Er ahnt nicht, dass ihre Besitzerin die alte Dora (Hayley Carmichael) ist, die mit ihrer ebenfalls greisen Schwester Imma (Shirley Henderson) alles daran setzt, den beharrlich um sie werbenden König nicht die Wahrheit erfahren zu lassen …
Die drei Handlungsstränge in »Das Märchen der Märchen« gehen auf die italienische Märchensammlung »Pentamerone« aus dem frühen 17. Jahrhundert zurück. In den dort zusammengetragenen fünfzig Märchen finden sich viele uns heute nur zu vertraute Motive wie Urformen von Aschenputtel oder Rapunzel. Regisseur Matteo Garrone entschied sich in seinem Film aber für drei weniger bekannte Erzählungen: »Die verzauberte Hirschkuh«, »Der Floh« und »Die geschundene Alte«. Die drei Stränge werden größtenteils unabhängig voneinander erzählt, kreuzen sich aber im Laufe des Films immer wieder und werden in der finalen Sequenz auf charmante Weise zusammengeführt. Gemeinsam sind ihnen die Frauengestalten mit ihren gefährlichen, mal leidenschaftlich, mal zaghaft vorgebrachten Wünschen, die in ihrem Kern menschlich statt märchenhaft sind: Liebe, Leben, Freiheit. »Das Märchen der Märchen« erzählt in seiner Gesamtheit davon, was geschieht, wenn unsere Wünsche (und der Preis, den wir für sie zu zahlen bereit sind) das Schicksal selbst und die Ordnung der Dinge herausfordern.
Gleich vorweg: Visuell und atmosphärisch ist »Das Märchen der Märchen« ein Meisterwerk, bei dem mit Aufwand nicht gegeizt wurde. Viele Sequenzen sind in nahezu barocker Opulenz inszeniert; der Bildsprache wird Zeit gelassen, ihre ästhetische Wirkung auch jenseits der Worte kraftvoll zu entfalten, beispielsweise, wenn die schwarzgekleidete Salma Hayek in einem schneeweißen Zimmer sitzend das blutige Herz verzehrt. Dazu kommen Landschaftsaufnahmen, die den Zuschauer direkt in Ölgemälde der Romantik zu saugen scheinen. Musik und Bilder ergänzen sich und sorgen für einen atmosphärisch dichten Film, der es versteht, auf der erzählerischen Ebene die typische märchenhafte Verknappung umzusetzen und den Zuschauer dennoch (oder gerade deswegen?) die menschliche Seite seiner Figuren spüren zu lassen. Gleichzeitig lösen die Geschichten die für Märchen so typische Schwarz-Weiß-Zeichnung gekonnt auf. Keine Figur handelt einfach nur böse oder moralisch verwerflich; Motive, Zwiespalte und Verlockungen sind in jeder Erzählung mitangelegt und lassen zumindest die Hauptfiguren ambivalenter wirken, als man es von einem klassischen Märchenfilm erwarten würde.
Dabei ist die schauspielerische Leistung oft abseits der Dialoge am eindrücklichsten, etwa in den ersten Szenen, wenn es dem Film gelingt, mit einem Mindestmaß an Worten und Erklärungen sowohl den verzweifelten Kinderwunsch der Königin als auch die bedingungslose Liebe ihres Königs für den Zuschauer fast schmerzlich sichtbar zu machen. Und während »Das Märchen der Märchen« in der Hauptsache auf große Emotionen, auf Spannung und Tragik setzt, blitzt auch immer wieder ein warmherziger Humor auf, der in der Gesamtkomposition nie fehl am Platz wirkt. Nur zu bereitwillig lässt man sich als Zuschauer in diese magische, teilweise beklemmende Märchenwelt mit ihren selbstverständlichen Absonderlichkeiten entführen, die teils wie Passagen einer (Alb-)Traumlandschaft anmuten.
Die narrative Ebene vermag dabei nicht ganz durchgängig mit der Ausdruckskraft der Bilder mitzuhalten: Das ist zum Teil vielleicht dem Erzählstil mit den drei verflochtenen Strängen geschuldet, der zwar insgesamt sehr gut funktioniert, den Zuschauer ab und an aber doch den Faden verlieren lässt. Auch wird nicht jeder Strang in seiner Auflösung der erzählerischen Spannung gerecht, die über die Handlung hinweg aufgebaut wird. Mit dem Fokus, der auf der Sogwirkung einzelner Bilder liegt, gelingt es nicht immer, diese auch nahtlos und schlüssig zu entsprechenden Sequenzen zu verknüpfen. Hier und da entsteht durch die Betonung des Märchencharakters auch eine gewisse Distanz zu den Figuren und ihrer Entwicklung: Obwohl sich durchaus ein Mitfiebern und -leiden mit ihren Schicksalen einstellt, so stehen eben doch jederzeit die Geschichten im Vordergrund, die von den Figuren getragen werden. Auf feinsinnige Charakterstudien darf man entsprechend, trotz der erwähnten Ausdifferenzierung der einzelnen Figuren, nicht hoffen. Dennoch wissen die verschiedenen Schauspieler im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu überzeugen, und das — zum Teil offene — Ende besticht mit besonders starken Bildern.
Insgesamt ist »Das Märchen der Märchen« ein Film, der auch nach dem Kinobesuch noch nachwirkt. Er inszeniert die drei alten Erzählungen genüsslich, ein wenig düster, ein wenig derb und ein wenig brutal. Zuweilen verschwindet der rote Faden ein wenig im Dickicht der auf starke Wirkung bedachten Bilder, wodurch sich der Film bei all seinem Potenzial manchmal selbst im Wege steht und mit seinen Geschichten nicht ganz die Tiefe und Stärke erreicht, auf die er es eigentlich anlegt. Sehen lassen kann sich das Endergebnis dennoch.