David Lynch ist ein Künstler, der den Zuschauer ein ums andere Mal aus der Fassung bringt. Wenn der Name Lynch fällt, erinnert man sich sofort an surrealistische Traumbilder, assoziativ aneinandergereihte Filmsequenzen, rätselhafte Dialoge und skurrile Charaktere. Mit seiner unverkennbaren Handschrift hat Lynch sich ins kulturelle Gedächtnis der Filmwelt eingebrannt. Doch seine wahre Stärke liegt nicht allein in der formalen Originalität seiner Werke, sondern in der meisterhaften Verbindung von abstrakter Eigentümlichkeit und psychologischem Einfühlungsvermögen. Sein Film The Straight Story aus dem Jahr 1999 spiegelt neben Der Elefantenmensch (1980) am offensichtlichsten die große Stärke Lynchs wider. Während in seinen anderen Filmen Symbole, Rätsel und Absurditäten im Vordergrund stehen und der emotionale Realitätsbezug nur zu erahnen ist, zeigt sich in der wahren Geschichte über die Rasenmäher-Reise des Alvin Straight Lynchs ungeheures Vermögen, menschliche Schicksale psychologisch treffsicher zu erzählen. The Straight Story kann es gelingen, auch den letzten Zweifler darauf zu stoßen, dass hinter der skurrilen, surrealen Kunstform David Lynchs ein ausgeprägtes Interesse an der Erkundung der menschlichen Seele liegt.
Mit The Straight Story beschäftigte Lynch nach Der Elefantenmensch das zweite Mal in einem Spielfilm mit einer wahren Begebenheit. Auch in vielerlei anderer Hinsicht sticht der Film aus dem Gesamtwerk des Regisseurs hervor: Lynch selbst war nicht am Drehbuch beteiligt – da vertraute er ganz auf John Roach und Mary Sweeney – und der Film wurde von Disney produziert, was möglicherweise in seiner anrührenden Art begründet liegt, eine Geschichte für die ganze Familie zu erzählen. Für die Hauptrollen wurden Richard Farnsworth (Misery) und Sissy Spacek (Nashville Lady) besetzt. Dass The Straight Story mit seiner unmittelbaren Menschlichkeit den ureigensten Ausdruck Lynchs in gleicher Weise zu Tage fördert wie seine anderen Filme belegt ein Zitat von Sissy Spacek, in dem sie sagte: „Ich kenne ihn seit Jahren, und ich glaube, The Straight Story erinnert mehr an den David Lynch, wie ich ihn kannte, als jeder andere seiner Filme“1. Die Drehbuchautorin des Films, Mary Sweeney, wies mit dem Satz „Er wird immer als Meister des Verrückten bezeichnet, aber er ist so viel mehr“2 ebenfalls darauf hin, dass Lynchs Reichweite über oberflächliche Absonderlichkeiten hinausgeht.
Die Geschichte von Alvin Straight, der mit einem Aufsitz-Rasenmäher eine Strecke von ungefähr 400 Kilometern zurücklegt, um seinen kranken Bruder in Wisconsin zu besuchen, wird in einem für den Regisseur untypischen langsamen Erzähltempo geschildert. Damit wird dem Film Raum geboten, die Lebenswelt seiner Hauptperson in aller Ruhe auszuleuchten und die Stationen während der Reise zu eigenständigen kleinen Geschichten werden zu lassen. Trotz ihrer Alltäglichkeit hat jede Szene ihre Berechtigung, fügt sie doch dem Charakterportrait von Alvin Straight ein unverzichtbares Puzzlestück hinzu. So ist es notwendig einen ersten gescheiterten Versuch von Alvin Straights Reisevorhaben in all seiner Banalität zu zeigen, um die Hartnäckigkeit des alten Mannes darzustellen. Das bedächtige Erzähltempo ermöglicht außerdem, dass alle Beteiligten ihr Gespür für die kleinen menschlichen Regungen unter Beweis stellen können. Richard Farnsworth lässt das Gefühl aufkommen, einen Dokumentarfilm über den echten Alvin Straight zu Gesicht zu bekommen. Das Glänzen in seinen Augen und das Zucken seines weißen Bartes erzählen dem Zuschauer so viel über sein Innenleben, dass seine Wortkargheit in Vergessenheit gerät. Und Sissy Spacek steht ihm in nichts nach, indem sie Alvins Tochter als fürsorglichen Engel und an einem Trauma leidende Frau beeindruckend verkörpert, auch wenn ihre Rolle im Film leicht vernachlässigt wird.
Visuell wird die Reise des Alvin Straight durch eine Metaphorik der sonnenbeschienenen Kornfelder und landwirtschaftlichen Maschinen begleitet. Die Kornfelder vermitteln dabei ein Gefühl davon, wie Alvin die Luft der Freiheit zu atmen bekommt. In den Mähdreschern hingegen lässt sich die Beständigkeit und Unverwüstlichkeit erkennen, mit der sich Alvin den Herausforderungen des Lebens stellt. Die Filmmusik von Angelo Badalamenti kitzelt einerseits auf ihre melancholisch-nostalgische Weise eine Ahnung von der Schwere der menschlichen Existenz im Zuschauer hervor. Andererseits klingt in der Sentimentalität der Musik, gepaart mit der Romantik des mehrmals auftauchenden Sternenhimmels, dezent die Seifenoper-Atmosphäre von Twin Peaks an, die man einem David Lynch einfach nicht übelnehmen kann. Eingehüllt in diese Atmosphäre stellt sich The Straight Story in erster Linie als Reflexion über das Altwerden, das Vergeben und das Leben im Allgemeinen dar. Die verhältnismäßig wenigen Worte, die in dem Film gesprochen werden, treffen im Innersten. Damit wäre einmal mehr belegt, dass David Lynchs bisheriges filmisches Vermächtnis über abstrakte Kopfgeburten hinaus auch eine emotionale, wahrhaft menschliche Annäherung an Schicksale beinhaltet.
1,2 Helen Donlon (Hrsg.): David Lynch Talking. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2008, S. 163 und 166.