»Wenn wir auf unsere Herzen hören würden«, sagt der vermummte Mann, der irgendwo in nächtlicher mexikanischer Einöde mit seinen Kumpanen Crystal Meth kocht, »wären wir am Arsch. Wir sind arm. Wenn es uns gut ginge, wären wir so wie ihr«, ein Nicken zum unsichtbaren Kamerateam, »wir würden um die Welt reisen und anständige Jobs machen …«
Es sind nicht die Meth-Köche, auf die »Cartel Land« seinen Fokus legt. Sie bleiben fast den ganzen Film über gesichtslos in den Schatten, ganz wie es die Eingangssequenz illustriert. Der rote Faden der Dokumentation ist die von den Drogenkartellen Mexikos verursachte Gewalt — und die zivile Reaktion dagegen.
Arizona, direkt an der US-mexikanischen Grenze, und Michoacán, ein Bundesstaat in Zentralmexiko: Auf beiden Seiten der Grenze bilden sich Bürgerwehren. Während auf der US-amerikanischen Seite der einstige Soldat Tim »Nailer« Foley seine kleine Schar von Getreuen durch raue Landschaft jagt und vom »wahren Wilden Westen« spricht, gründet in Michoacán der charismatische Arzt José Mireles die »Autodefensas«, ebenfalls eine Bürgerwehr, die mit Waffen, Selbstvertrauen und flammenden Reden Ortschaft um Ortschaft von der Kontrolle der Kartelle befreit.
Was beiden Bewegungen gemein ist: Sie fühlen sich vom Staat allein gelassen. »Ich sollte die Polizei rufen können«, sagt Foley in Arizona, die stechend blauen Augen in die Kamera gerichtet, »aber Tucson ist zu weit weg.« Und in Michoacán, wo die Polizei zwar zur Stelle ist, werden Mitglieder des lokalen Kartells nur kurzzeitig festgenommen und dann wieder freigelassen — bewaffnet.
»Cartel Land« folgt dem Werdegang beider Bewegungen, sorgsam komponiert und mit dem Spannungsaufbau eines lupenreinen Thrillers. Zu fesseln und zu berühren weiß dabei vor allem der Strang um Mireles und seine »Autodefensas« in Michoacán, denn hier findet eine Entwicklung statt, geht der Film unter die Oberfläche und beleuchtet den ausgetragenen Konflikt und die Helden der Stunde mit ihren immer stärker zu Tage tretenden Schattenseiten. Letztlich hätte allein dieser Teil schon ausgereicht, die Dokumentation zu füllen.
Das Porträt von Foleys Bürgerwehr und den Grenzpatrouillen, fast vollkommen getragen von Foleys nüchternen Schilderungen, vermag da nicht den gleichen Sog zu entfalten, es bleibt recht statisch und vermag vor allem nicht die gleiche Dringlichkeit zu entfalten wie die Schilderung dessen, was sich weit südlich der Grenze abspielt. So überzeugt Foley und seine Männer von der Bedeutung ihrer Mission sein mögen, so sehr sie ihre eigene Sicherheit durch Einfluss der mexikanischen Drogenkartelle bedroht sehen, erweckt ihr Vorgehen doch immer wieder den Eindruck, als ob es sich für sie vor allem um ein besonders realistisches Abenteuerspiel handelt. Was einerseits als wirkungsvoller Kontrast zu den Ereignissen in Mexiko funktioniert, wirkt so auf der anderen Seite auch teils als Bremsklotz für den gesamten Film und enttäuscht ein wenig, weil die Dokumentation ihr Potenzial hier nicht ausschöpft. Gerade die Frage nach internen Spannungen und Konflikten in Foleys Truppe wird nur angerissen, und so bildet der Blick auf die nördliche Seite der Grenze kein ganz würdiges Gegengewicht zu den Geschehnissen von Michoacán.
Letztere sind dafür aber mit umso mehr Dichte aufbereitet. Die Eingangssequenz mit den Meth-Köchen bleibt dabei der einzige Moment im Film, in dem die Anwesenheit der Filmemacher in irgendeiner Weise reflektiert wird — den Rest der Dokumentation über arbeitet »Cartel Land« mit der scheinbar vollkommenen Unsichtbarkeit seiner Macher und erzeugt damit eine nahezu schmerzhafte Nähe zum Geschehen. Zum Teil finden auch roheste Gewalt und ihre Spuren den Weg vor die Linse: eine blutüberströmte Leiche, abgetrennte Köpfe. In anderen Momenten lässt »Cartel Land« einfach von der Gewalt Betroffene selbst sprechen und deren nüchterne Worte eine verstörende Kraft entfalten. Kein Sprecherkommentar auf dem Off, der Ereignisse bewertet oder einordnet, »Cartel Land« überlässt es vollkommen den porträtierten Akteuren, die Situation zu schildern.
Schnitt, Licht und der auf schlichte Weise eindringliche Soundtrack geben zuweilen dennoch eine Spur zu stark das Gefühl von bewusster, auf Effekt ausgerichteter Komposition des Bildmaterials, doch das hält sich erfreulicherweise in Grenzen. Beklemmend folgt der Film gerade in Michoacán der immer stärker werdenden Spirale der Gewalt und wartet zuletzt mit einer desillusionierenden, aber gekonnt platzierten Pointe auf.
Manche Entwicklungen, gerade innerhalb der »Autodefensas« und im Hinblick auf ihren Anführer Mireles, vollziehen sich allerdings scheinbar zu schnell und werden — forscht man ein wenig nach — den realen Hintergründen nicht in voller Weise gerecht. Auch Zeitgefühl vermittelt »Cartel Land« nur unzureichend, was angesichts der expliziten Orientierung an konkreten Ereignissen des Jahres 2014 etwas unglücklich ist. Hier hätte der Film noch mehr leisten und vielleicht sogar noch stärker in die Tiefe gehen können.
Obwohl »Cartel Land« mit seiner Dramaturgie und atmosphärischen Bildern des US-amerikanischen Grenzgebiets auch den Anspruch erhebt, die transnationalen Verflechtungen der Kartellproblematik zu porträtieren, fällt dieser Aspekt kaum ins Gewicht. Die Handlungsstränge in Arizona und Michoacán werden bestenfalls lose verflochten. Was die Dokumentation aber leistet, ist ein beklemmendes Porträt der Zustände in Mexiko, das Zusammenspiel von staatlichen und kriminellen Strukturen, Auswüchse von Gewalt, politischer Ohnmacht und ziviler Hilflosigkeit. »Cartel Land« ist auch in Ansätzen ein Lehrstück über den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt und eine gänsehautbereitende Demonstration, wie machtvoll und tief verwurzelt in der Gesellschaft die Drogenkartelle und ihre Strukturen sind. Eine Hoffnung auf Deeskalation, gar das Liebäugeln mit wirkungsvollen Lösungsansätzen, bietet »Cartel Land« nicht, das ist aber auch zu keinem Zeitpunkt Anspruch des Films.