Gleich zu Beginn ihres zweiten Spielfilms Blackbird Blackbird Blackberry weist uns die georgische Filmemacherin Elene Naveriani unmissverständlich darauf hin, dass dies ein Film der radikalen Veränderung ist. In jener Szene sehen wir ihre Protagonistin Etero (gespielt von der großartigen Eka Chavleishvili, die bereits in Naverianis Wet Sand zu sehen war) eine Schlucht hinabblicken, an derem Fuß sich eine kleine Menschenmenge versammelt hat, die, vornübergebeugt, eine Leiche beäugt. Das Gefühl, das sich schon bei flüchtigem Blick auf den bäuchlings liegenden Leichnam einschleicht, bestätigt sich wenig später, als sie von den Umstehenden auf den Rücken gedreht wird und wir in ihr jene Etero erkennen, die sich Momente zuvor nur geradeso davor retten konnte, die Klippe hinabzustürzen. In diesem Moment verdoppelt sich Eteros Realität, oder vielmehr, ein Teil von ihr stirbt ab, wird von ihr wortwörtlich fallengelassen.
Basierend auf dem gleichnamigen Roman Tamta Melashvilis, der seinerseits mit Versatzstücken des georgischen Versepos‘ Eteriani arbeitet, entwickelt Naveriani in der Folge dieses Nicht-Ereignisses zugleich eine dunkle Komödie und eine Erweckungsgeschichte der achtundvierzigjährigen Etero. Denn als Etero von ihrem Ausflug zu den titelgebenden, klippennahen Brombeeren und dem Amselgesang in den von ihr geführten Haushaltsladen zurückkehrt, drängt sich etwas in ihr nach außen, das sie ihr gesamtes bisheriges Leben erfolgreich zurückgedrängt hat — die Libido. Der Lieferant Murman (Temiko Chichinadze, Die langen hellen Tage) erscheint ihr nun in einem gänzlich anderen Licht — nein, besser gesagt, in einem anderen Odeur — und dieser Geruch treibt sie nun instinktiv in dessen Arme. Als Etero diesen nach vollzogenem Akt buchstäblich raus in den Regen schickt, die Tür hinter ihm ins Schloss fällt und sie sich in den Schritt fasst, um den in ihr hinterlassenen Samen einer olfaktorischen Musterung zu unterziehen, spricht sie in das leere Haus hinein und somit zu uns: „Dahin geht also meine achtundvierzigjährige Jungfräulichkeit“. Dieser theatrale Monolog, der in vielen Filmen als affektierte Albernheit anmuten würde, äußert sich hier, fernab von grellem Klamauk, in einem aufrichtigen Konstatieren der eigenen Lebenssituation, wenngleich Naveriani es sich nicht nehmen lässt, mit diesem Satz die unmittelbar folgenden Opening Titels einzuläuten.
Es ist ein famoser Spagat, der der georgischen Regisseurin über weite Strecken des Filmes gelingt, in dem sie den sozialen Realismus innerhalb der Dorfgemeinde mit einem unterkühlten Humor paart, der sich oft weniger aus dem Dialog denn der Situationskomik ergibt; aus Blicken im Gegenschuss inmitten der leuchtend hellen Wandfarben, die weniger im Kontrast denn komplementär zum tragikomischen Ansatz Naverianis stehen. Zugleich von inszenatorischer Reife und jugendlichem Temperament, thematisiert die Georgierin die vielen vermeintlichen Nichtigkeiten im Leben Eteros mit größter selbstverständlicher Bedeutung und verleiht ihnen gerade durch den subtilen Humor jene Substanz, die ihnen in den Händen weniger stilsicherer Regisseure verlustig gingen. In dem lakonischen Grundton, den vielen Ulkigkeiten und der Kargheit der Szenerie erinnert Naverianis rurales Georgien bisweilen — wenngleich in ungleich bunterer Szenerie — an die Filme des Finnen Aki Kaurismäki, nicht zuletzt, weil Naveriani, wie ihr finnischer Kollege, niemals den emotionalen Kern ihrer Geschichte aus den Augen verliert.
Es ist schwierig, sich einen Menschen vorzustellen, der nicht mit Etero sympathisieren würde, wenn er sie dabei beobachtete, wie sie, auf dem Bett sitzend, unter Anleitung des auf dem kleinen Röhrenfernseher laufenden Fernsehprogramms Origami faltet. Wenn sie ihren Freundinnen ihre zahlreichen Pläne und Ambitionen für den Ruhestand nennt: ein Haus bauen; Bücher lesen; Englisch lernen; eine Kamera kaufen — das Motiv, auf Nachfrage ihrer Freundin, bereits vor innerem Auge: eine nebelige Berglandschaft — breitet sich auf ihrem Gesicht ein Echo der Adoleszenz aus. Oder wenn sie sich zunächst nicht unwillig, doch unfähig, zeigt, die Liebesbekundungen Murmans zu erwidern, und nur verlegen in sich hineingrient, peinlich darauf bedacht, im Moment des Glücks von niemandem beobachtet zu werden.
Die veränderte Rolle, die Murman in Naverianis Film im Vergleich zum mittelalterlichen Versepos zukommt, ist stellvertretend für eine Abkehr von der romantischen Vorlage, die, wenig verwunderlich, im Tod der drei Protagonist*innen — der Prinzessin Eteri und ihrem Geliebten Abesalom sowie ihrem unglücklichen, sich mit dem Teufel verbündenden Verehrer Murman — endet. Parallel zum Werk der mazedonischen Filmemacherin Teona Strugar Mitevskas (Gott existiert, ihr Name ist Petrunya, The Happiest Man in the World) scheinen jene Geschichten und Traditionen in der Gegenwart nur als Umschreibungen - als Neuschreibungen - denkbar; ganz unvermeidlich, wenngleich bei Naveriani der Humor eine größere Gewichtung erhält. Ihr Eteri ist nun Etero, und der Traumprinz Abesalom tritt hier lediglich in einer Anekdote Eteros auf, die sie ihren „Mädchen“ erzählt, mit denen sie sich regelmäßig zum Kartenspielen trifft. Vor einiger Zeit, nach dem Tod ihres Vaters und Bruders, habe ein solcher Abesalom — ein alter Klassenkamerad — bei ihr an der Tür geklingelt und ihr ewige Liebe geschworen. Sichtlich unbeeindruckt habe sie diesen mit dem Jagdgewehr ihres Bruders vertrieben, mit dem dieser einst seine Vögel schoss. Eine ihrer menopausalen Freundinnen knüpft sofort an jene Geschichte an und berichtet davon, dass dieser Abesalom immer mal wieder sein Geschäft aufsuchen würde, um Viagra zu kaufen. Der nicht in Erscheinung tretende Märchenprinz, der sich im Versepos noch über elterliche Grenzen hinwegzusetzen versucht, um „seine“ Eteri zu heiraten, wird in Naverianis dunkler Komödie somit auf doppelte Weise seiner Potenz beraubt, indem er lediglich in Form einer Anekdote auftritt und ihm auch die romantische Eroberung versagt bleibt.
Ebenso zur Rolle einer bloßen Evokation relegiert treten auch Eteros Bruder und Vater in einer kurzen Vision infolge ihres ersten Geschlechtsverkehrs in Erscheinung, in welcher ihr beide Männer vorwerfen, sie sei nun eine Hure geworden. Es ist nur ein kurzer Augenblick, der uns aber alles mitteilt, was wir über Eteros Erziehung wissen müssen. Die (zumeist patriarchal) tradierten Zuschreibungen stellen sich bei Naveriani allesamt als aktualisierungswürdig heraus, und da passt es nur ins Bild, dass auch jener Murman, den der mittelalterliche Text als Abschreckmodell präsentiert, sich als erste Liebesaffäre Eteros herausstellt — ihr Liebesgeschichte schreibender „netter Hund“ inmitten eines großen Rudels Wölfe. Doch auch der herzensgute Murman bedeutet keinen Endzweck; keineswegs kommt dieser plötzlichen Zweisamkeit die Bedeutung einer Ankunft in einem neuen Lebensabschnitt bei.
Als Murman ihr eröffnet, dass er einen neuen Job als LKW-Fahrer in der Türkei annehmen müsse, durch den er ein Vielfaches dessen verdienen könne, was ihm in Georgien in Aussicht stünde, drückt sich in den darauffolgenden Szenen eine der großen Stärken in Naverianis unaufgeregter Inszenierung aus. Denn weder entwickelt sich aus dieser sich anbahnenden Trennung eine außergewöhnliche Tragik, noch schlägt Naveriani aus dieser Szene humoristisches Kapital auf Kosten ihrer Figuren. Denn die sich schon bald als grundsätzliche Differenzen aufzeigenden Lebensentwürfe Eteros und Murmans betonen nur noch einmal die Gleichzeitigkeit, in der zwei Menschen sich unwahrscheinlich nah und einander nicht entfernter sein können. Insbesondere dadurch, dass Murman in diesem Aufeinandertreffen nicht zum Ewiggestrigen stilisiert, sondern in seiner Komplexität erfasst wird, äußert sich die große Sympathie, die Naveriani für ihre Figuren empfindet und die sich in der Folge unweigerlich auch auf uns überträgt.