Noch bevor das erste Bild zu sehen ist hören wir ein paar Sekunden lang ein anstrengendes Keuchen. Eine Frau, die um Atem ringt. Urplötzlich werden wir aus der Dunkelheit befreit: Auf einmal sind wir ganz nahe am Gesicht von Iya (Viktoriya Miroshnichenko), die regungslos vor uns steht. Obwohl sie ihren Blick nur knapp von der Kamera abgewendet hat sehen wir in ihren Augen fast nichts außer einer regungslosen Leere. Eine Schockstarre hat den Körper der jungen Frau einfrieren lassen und lässt sie für Minuten als Hülle dastehen. Was ist passiert? Befinden wir uns in den ersten Momenten nach einem Unglück? In den Sekunden der Realisierung, dass etwas Schreckliches passiert ist? Die weiter zurücksetzende Kamera gibt uns schließlich einen weiteren Kontext: Iya ist Krankenschwester und befindet sich lediglich in einem Alltagsmoment. Aus ihrer Starre wird sie schließlich von einer Kollegin befreit. Es sind nicht die ersten Minuten nach einem Unglück, viel mehr aber die ersten Monate danach: Kantemir Balagovs (Closeness) zweiter Film Beanpole (DT: Bohnenstange) spielt in Leningrad im Jahre 1945 in den Monaten kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Iya hat durch ihre Erlebnisse als Soldatin in diesem verheerenden Krieg ein Trauma davongetragen, welches sich in den Anfällen einer Schockstarre ausdrückt. Nun muss sie als Krankenschwester die Scherben einer zusammengefallenen Welt aufsammeln. Beanpole setzt in diesem Zustand nach einem Unglück an und formuliert auf der Grundlage einer Traumaufarbeitung eine existenzielle Suche der Menschen nach Halt in einer Zeit, in der alles auseinandergebrochen ist. Die Präzision, mit der sich Regisseur Balagov diesem Thema annimmt, sorgt für ein aufwühlendes, wie gewaltiges Filmerlebnis.
Von dem, auf den ersten Blick zumindest, trocken erscheinenden Hintergrund eines Historienfilmes befreit sich Beanpole bereits durch seine einzigartige Bildsprache. Balagov räumt konsequent mit der vertrauten, gräulich und antik wirkenden Ästhetik der Nachkriegszeit auf. Zwar ist das dargestellte Leningrad von mehreren farblosen, klinisch tot wirkenden Häuserfassaden gezeichnet, im Inneren der Räume aber, denen Balagov mindestens so viel Aufmerksamkeit schenkt wie dem Inneren seiner Charaktere, herrscht ein Meer aus nahezu leuchtenden Farben. Insbesondere die Farben Rot und Grün ziehen sich durch fast jede Einstellung seines Filmes und verhelfen zu einer Einordnung der Figuren: Grün, das steht für die fruchtbare Natur der großgewachsenen Iya, die schüchtern durch gefallene Soldaten und desillusionierte Passanten wandert. Rot hingegen verdeutlicht das Brennen der Seele ihrer Freundin Masha (Vasilisa Perelygina), welche noch um den Verbleib ihres Sohnes Pashka (Timofey Glazkov) kämpft und die, im Gegensatz zu Iya, deutlich impulsiver erscheint. Die Farben, welche sich and den Kleidungen der beiden Frauen, wie auch an den Wänden ihrer gemeinsamen Wohnung abzeichnen, vergegenwärtigen die Dynamik der beiden Überlebenden, von der Beanpole im Kern auch handelt.
Das Verhältnis der beiden Freundinnen erscheint als das einzige Licht in dunklen Zeiten. Langsam gleitet die Kamera über ein Leningrad in permanenter Anspannung. Menschenmassen ziehen nachts unkontrolliert durch die Straßen, während die Verletzten im Lazarett langsam anfangen, zynische Späße zu treiben. In einer Szene bespaßen sie sich mit Mashas Sohn Pashka und fordern ihn auf, einen Hund zu imitieren, nur um festzustellen, dass der Junge wahrscheinlich nie einen Hund in seinem Leben gesehen hat. Balagovs Film hält einen Zustand der Welt fest, in welchem die Normalität nur noch einen Wunschtraum darstellt der für aber sie unerreichbar ist. Dennoch aber quält der Gedanke an eine mögliche Vorstellung von Normalität jeden Charakter des Filmes. Während Iya an wiederkehrenden Anfällen leidet muss sich Masha selbst mit unheilbaren Wunden abfinden, verdeutlicht durch ihre Unfruchtbarkeit, ebenfalls ein Resultat des Krieges, ein Zustand, den sie nicht akzeptieren kann. Die metaphorische Ebene der Phrase von Mashas Arzt („Es gibt nichts mehr in Ihnen, was Leben schaffen könnte“) verweist auf eine zwischenmenschliche Kälte, welche sich in die Figuren gefressen hat. Ein zweites Kind müsste her, dann sei alles wieder in Ordnung, so der Irrglaube, mit dem Masha ihre Freundschaft zu Iya zu dominieren beginnt. Iya beginnt diesen Gedanken weiter zu füttern und lässt sich auf ein perverses Machtverhältnis ein. Denn schließlich will sie „ihre Herrin sein“.
Diese äußeren Verletzungen der beiden Frauen gestalten sich jedoch schnell nur als Verweis auf ein größeres Trauma, das in ihnen verborgen ist und in den Interaktionen zwischen ihnen mal mehr, mal weniger zum Vorschein kommt. Etwas unausgesprochenes liegt zwischen den beiden Ex-Soldatinnen. Die Verzweiflung des Krieges und ihr gemeinsames Schicksal hat beide einander nicht nähergebracht, sondern sie voneinander entfremdet. Irgendwann wird schließlich klar, dass ihre Freundschaft viel komplexer ist als es zunächst anmutet. Möglicherweise verbergen sich hinter ihr auch Gefühle, die beide nicht akzeptieren wollen oder eher können. Das Verhältnis der beiden Frauen verbleibt nur noch als erzwungenes Konstrukt. Wirkliche Nähe existiert nur in wenigen Gesten. Statt Unterstützung entspinnt sich eine giftige, gegenseitige Abhängigkeit. Beanpole blickt in dem Psychogramm zweier Überlebenden tief in die menschliche Seele und fängt durch Balagovs zutrauliche und dennoch schonungslose Beobachtungsgabe Nuancen und charakterliche Tendenzen ein, die so immanent sind, dass die Figuren selbst sich diesen nicht bewusst zu sein scheinen. Nur uns als Publikum wird ein breiterer Blick gewährt, während die Handelnden im Film selbst daran zu zerbrechen scheinen, einander verstehen zu wollen.
Die Figuren in Beanpole sind nicht bereit sich ihren Gefühlen zu stellen und sind deswegen unfähig, dasselbe Schicksal gemeinsam zu tragen. Das Einzige was sie können ist ihre innere Leere zu stopfen, sei es mit gegenseitiger Unterdrückung oder die Verdrängung eigener Gefühle. Ein Moment, der letzteres perfekt einfängt, ist der, als Masha sich ein knallgrünes Kleid anzieht und sich damit vor Freude unkontrolliert im Kreis dreht und nicht mehr damit aufhören will. Kindlich will sie an einem Augenblick der Euphorie festhalten und driftet schließlich in eine ekstatische Verzweiflung. Generell benehmen sich die Charaktere oftmals wie Kinder, da der Krieg ihnen jede gefestigte Lebensgrundlage genommen hat. Eine neue Welt bricht für sie an und sie müssen erst lernen, ihr zu begegnen. Der Titel „Beanpole“ verweist zwar zunächst auf Iyas Körpergröße, gleichzeitig aber bedeutet dieser Ausdruck im russischen Original so viel wie „Tollpatsch“. Um aus ihren Kinderschuhen wieder zu erwachsen müssten sie sich selbst stellen, eine Aufgabe, die nicht jeder am Ende des Filmes bestanden haben wird. Beanpole ist daher auch ein Film, der da ansetzt, wo manche Nachkriegsfilme erst beginnen, wenn Balagov seine komplexen, psychologischen Themen schließlich nie seinem Setting unterordnet. Die Charakteristiken, was „starke“ Figuren ausmacht, werden hier neugeschrieben. Für den Films selbst scheint wahre Größe nur in der Erlernung von Vergebung und Akzeptanz zu liegen. Auf dem Weg dorthin begleitet der Film seine Figuren empathisch und voller Verständnis, gleichzeitig aber erspart er ihnen keinen Schmerz.
Inspiriert von dem Dokumentroman „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ von Swetlana Alexijewitsch wirft Beanpole ein Licht auf die Geschichten der Überlebenden, die in der historischen Aufarbeitung des zweiten Weltkrieges oft vergessen werden, im engeren Sinne, auf die Narrative von zwei Frauen, denen die Welt entglitt. Jedoch weigert sich Balagovs Film voller Überzeugung das Schicksal von Iya und Masha zu einem bloßen Beispiel für ein solches Schicksal verkommen zu lassen. Dafür sind die Charakteristiken der beide, die der Film schonungslos offenbart, zu komplex und zu individuell. Was Balagovs Film so meisterhaft macht, ist das er dies viel mehr als Anlass sieht, seiner zutiefst erschütternden Geschichte eine universelle Gültigkeit zu verleihen, welche das historische Setting transzendiert. In vielen Nahaufnahmen drängen sich Gesichter, gerahmt von bunten Interieurs, in den Vordergrund, deren Blicke und Gesten Bänder sprechen. Die immersive Kameraführung von Ksenia Sereda lässt keinen Ausweg aus dieser einengenden Perspektive. Die Leistung des gesamten Casts, insbesondere aber die der beiden Hauptdarstellerinnen, für welche Beanpole der erste Auftritt auf der Leinwand darstellte, bewegt sich auf demselben schonungslos offenen Niveau und ermöglicht so einem emphatischen Zugang zu dem Film der, so schmerzhaft er auch sein mag, unmöglich abgeschüttelt werden kann. Durch seine düstere Poesie wirkt Balagovs Film oft wie ein schauriges Märchen, dessen Inhalt realer und wahrhaftiger aber nicht sein könnte.