Inhalt
Sandra, Samuel und ihr sehbehinderter Sohn Daniel haben das vergangene Jahr in einem abgelegenen Landhaus verbracht. Als Samuel eines Tages tot vor dem Haus aufgefunden wird, glaubt die Polizei nicht an einen Unfall. Zahlreiche Indizien weisen auf die erfolgreiche Schriftstellerin Sandra, deren Beziehung während eines aufsehenerregende Gerichtsprozesses öffentlich ausgebreitet wird. Wollte Samuel sein Leben beenden? Oder wollte Sandra ihren Mann loswerden?
Kritik
Nach Todd Haynes Retro-Hommage May December ist Justine Triets (Sibyl - Therapie zwecklos) ausführliche Prozess-Chronik der zweite Wettbewerbsbeitrag über die oft irritierende und frustrierende Suche nach einer Wahrheit, die für jede der beteiligten Personen anders aussieht. Und nach Jonathan Glazers Auschwitz-Abstraktion Zone of Interest ist die Geschichte einer renommierten Romanautorin, die für den mutmaßlichen Mord an ihrem Mann vor Gericht gestellt wird, der zweite Anlauf einer in der Hauptrolle hervorragend aufspielenden Sandra Hüller (Sisi & Ich) auf die Auszeichnung als beste Schauspielerin.
Während sie als „Königin von Auschwitz“ auf Distanz blieb, richtet die Regisseurin und Co-Drehbuchautorin ihren Fokus mit kühler Konzentration auf Sandra, deren gefasste Präsenz selbst dann erdrückend bleibt, wenn sie abwesend ist. Dennoch erschließt sich nie ein klares Charakterbild der Autorin, deren Mann Samuel (Samuel Theis, Due West) von Sohn Daniel (Milo Machado Graner, Warten auf Bojangles) mit klaffender Kopfwunde vor dem entlegenen Landhaus gefunden wird. Ähnlich unklar bleibt der Hergang der Tat, die Freitod oder Mord gewesen sein könnte.
Die Unschärfe, fragwürdig versinnbildlicht in der Sehbehinderung des Sohnes, ist dabei kein Unvermögen, sondern dramaturgisches Werkzeug. So jedenfalls erklärt es eine der unglaubwürdigen Szenen, die den analytischen Anspruch der Inszenierung unterwandern. Ausufernde Rekonstruktionen und Rückblenden sowie erschöpfende Dialoge sollen dem zwischen Beziehungsdrama und Gerichtskrimi pendelnden Plot die im Titel evozierte medizinische Präzision geben. Stattdessen töten sie die Spannung einer Studie, die sich nicht zwischen Subjekt und Situation entscheiden kann. Was bleibt ist gepflegte Gleichgültigkeit.
Fazit
Trotz seiner verlässlichen Hauptdarstellerin und handwerklich tadellosen Inszenierung wirkt Justine Triets Prozessdrama wie ein schwacher Nachahmer Alice Diops brillanten "Saint Omer". Dessen sozial- und systemkritischer Scharfblick fehlen unbefriedigenden Untersuchung, die weder juristische noch mediale oder psychologische Mechanismen aufdeckt. Statt Faszination erzeugt die filmische Rekapitulation von Eifersüchteleien und Erfolgsneid einer trotz Überprivilegierung unzufriedenen Familie an Unsympathen nur Leere und Larmoyanz. Mit den Worten der Hauptfigur gesprochen: „All this blahblahblah here and more time is gone“
Autor: Lida Bach