In aberwitzigen, aber absolut gerechtfertigten 315 (!) Minuten erzählt Bernardo Bertolucci(Der letzte Tango in Paris) die Geschichte Italiens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 45 Jahre umfasst die epische Zeitspanne, schildert anhand dem Schicksal zweier Freunde das Klassensystem vor dem ersten Weltkrieg; das Aufkommen des Faschismus; der Machtübernahme des Terrorregimes und schlussendlich den Aufstand der Arbeiter und Sozialisten nach dessen Zusammenbruch. Bertolucci kleckert nicht, er klotzt. Sein fast größenwahnsinniges Projekt ist europäisches Kino auf allerhöchstem Niveau. Überlebensgroß, ausschweifend, epochal. Ein gewaltiges Meisterwerk über eines der dunkelsten, gerne auch totgeschwiegenen Kapiteln der italienischen Geschichte, von den Wurzeln an vorgetragen.
1 ½ Stunden sind reiner Prolog, die eigentlichen Hauptdarsteller Robert De Niro (Heat) und Gérard Depardieu (Der Bulle von Paris) treten bis jetzt noch gar nicht in Erscheinung. In dieser Zeit erzählen andere Filme ihre gesamte Story, nicht so dieses Mammutwerk. Wir erleben die Situation vor dem ersten Weltkrieg, die Welt der elitären Oberschicht und der mittelosen Proletarier. Eine Zweiklassengesellschaft, die in friedlicher, wenn auch ungleichen Co-Existenz neben- und miteinander leben, beide aufeinander angewiesen. Unmutsäußerungen der Arbeiter verlaufen weitestgehend friedlich, doch durch erste Streiks wird bereits ersichtlich, dass Unzufriedenheit herrscht. Mit Ende des ersten Weltkriegs beginnt die Industrialisierung, moderne Maschinen drücken die Löhne und machen menschliche Arbeitskraft weniger wichtig, die Schere zwischen Arm und Reich geht noch weiter auseinander. Gleichzeitig spaltet sich das Land auch politisch immer mehr. Die verarmten Arbeiter leben den sozialistischen Gedanken, während sich der Faschismus im Land ausbreitet. Das friedliche Miteinander gerät ins Wanken, bis es schließlich zum brutalen Klassenkampf kommt und der schwarze Terror alles überrollt. Sich wie gewohnt parasitär in ein Ungleichgewichtsgefüge einnistet, ohne selbst dafür wirklich etwas „zu leisten“. Nur aus der Not, der Unzufriedenheit seinen Vorteil generiert.
Beeindruckend, wie Bertolucci dem Publikum diese umfangreiche Epoche nahebringt, in aller Ausführlichkeit. Das erfordert natürlich Geduld, Zeit und die Bereitschaft des Zuschauers, sich über 5 Stunden lang in dieser Welt zu verlieren. Das Erstaunliche dabei: Es ist keine Minute zu lang. Bei einer solchen Laufzeit scheinen Längen unvermeidlich, doch wer sich voll auf dieses Werk einlässt, spürt davon gar nichts. Famos ausgestattet, durchgehend mitreißend und meisterlich inszeniert ist der einst zweigeteilte Kraftakt 1900 ein cineastisches Monstrum, bei dem sich alles im Bereich Superlativ abspielt. Alles wirkt authentisch, ist hochinteressant und in seiner Opulenz wie eine gigantische Oper, zu der auch ein gewisser Schuss Pathos gehört, was keinesfalls negativ ins Gewicht fällt. Begleitet durch die wieder mal großartigen Klänge von Ennio Morricone (The Mission) durchlaufen wir ein Stück Geschichte, erleben die Entstehung und das Ende einer politisch-sozialen Hexenjagd, die ein Land spaltete und zwei Freunde, ja fast Brüder, zu unfreiwilligen Gegnern machte. Robert De Niro und Gérard Depardieu laufen zur Höchstform auf, am eindrucksvollsten ist aber wohl Donald Sutherland (Wenn die Gondeln Trauer tragen) als diabolischer Hofverwalter Attila, das Gesicht des faschistischen Schreckens.
„Ich will nicht elegant, ich will stark sein. Das ist kein Hemd, es ist ein Symbol!"
Sutherland liefert eine unfassbar-dämonische Vorstellung, seine Figur ist die Personifizierung des Grauens, des Hasses, der Gewalt. Das pure Böse, das gesamte, menschenverachtende Weltbild des Faschismus auf zwei Beinen. So intensiv und verabscheuenswürdig, die wohl beste Leistung seiner Karriere.