Danish Thriller Classic
Nur die wenigsten Filmfans - abseits von Dogma 95 Liebhabern oder Lars von Trier Verehrern - dürften das Königreich Dänemark aktuell auf ihrer kinematographischen Landkarte verzeichnet haben. Dafür liegen die wirklich eindrucksvollen dänischen Beiträge in den mainstreamtauglichen Bereichen Actionthriller („In China They Eat Dogs“ 1999), Krimidrama („Pusher“ 1996) oder Komödie („Adam’s Apples“ 2005) einfach schon zu lange zurück. Bekannter als die dänische Filmlandschaft an sich, sind wohl eher deren schauspielerische Exportschlager wie Mads Mikkelsen, Ulrich Thomsen, Kim Bodnia, Nikolaj Coster-Waldau und Nikolaj Lie Kaas, die durch diverse Auftritte in international beachteten Produktionen auch abseits ihrer Heimat auf sich aufmerksam machen konnten.
Doch gerade in den umtriebigen 1990er Jahren stieß das düster melancholische Kino der Dänen durchwegs auf entsprechend große Gegenliebe bei Konsumenten und Kritikern, wodurch einigen ausgewählten Produktionen sogar ein hollywoodtypisches (Eins-zu-eins-)Remake vergönnt war. Einer dieser wenigen Streifen ist Ole Bornedals „Nattevagten“ („Nightwatch“). Dieser hat bereits drei Jahre nach seiner Uraufführung trotz eines geringen Budgets und einer Besetzung mit weitgehend unbekannten dänischen Jungdarstellern, eine Neuauflage mit Ewan McGregor in der Hauptrolle nach sich gezogen. Das wiederum spricht für die atmosphärisch dichte Inszenierung und die filmische Qualität des dänischen Originals, das im August 2014 von Studiocanal eine Neuveröffentlichung als Blu-ray Disc spendiert bekommen hat.
Doch was unterscheidet „Nattevagten“ von anderen niedrigbudgetierten Euro-Thrillerproduktionen der 90erJahre? Am augenscheinlichsten wohl die einzigartig aufgebaute Atmosphäre konstanter Anspannung. Ole Bornedal nimmt sich mehr als ausreichend Zeit für ausschweifende Kamerafahrten durch die verlassene Pathologie, für das Einfangen der morbiden, alles erstickenden (Grund-)Stimmung - die wohl Jeden schon beim Gedanken an diesen Job beschleicht - und für diverse Einblicke in die Gefühlswelt seines verängstigten Hauptdarstellers. Endlos erscheinende Gänge, flackernde Lichter, sich bewegende Schatten und eingebildete Geräusche begleiten Martins Rundgang durch den verwinkelten Komplex.
Neben einem nahezu perfekten Arrangement dieser allseits bekannten Genreversatzstücke, wird jedoch auch viel Wert auf die Charakterisierung Martins und seines Umfelds gelegt, was zwar die Identifikation mit den Charakteren erleichtert, jedoch (ungewollt) auch etwas Schwung aus der Handlung nimmt. Denn neben sich bewegenden Leichen und ermordeten Prostituierten nehmen Alltagsprobleme, dumme Streiche und aufgesetztes Revoluzzer-Dasein einen Großteil der Handlung ein. Da wird munter in ein Taufbecken gekotzt, ein Blow-Job in einem Restaurant inszeniert, eine Kneipenschlägerei provoziert und Geschlechtsverkehr in der Leichenhalle vollführt. Es ist Ole Bornedals geschickter Inszenierung zu verdanken, dass sich diese Aspekte zu einem homogenen Ganzen - mit leichten (Spannungs-)Durchhängern – verbinden lassen. Ein weiterer kleiner Minuspunkt ist der ausgesprochen beschränkte Cast, der die Antwort auf die Frage nach der Identität des Killers bereits recht früh erahnen lässt. Da dieser jedoch so oder so bereits 30 Minuten vor dem Ende offenbart wird, soll dieser Umstand „Nattevagten“ nicht allzu negativ angelastet werden.
Darstellertechnisch besticht der Film erst im Rückblick mit einer genialen Besetzung. Für Kim Bodnia war der Streifen ebenso wie für Nikolaj Coster-Waldau, die erste richtig große Rolle, nach einigen wenigen Auftritten im dänischen TV. Ulrich Thomsen („Hitman“) absolvierte seine allerersten filmischen Gehversuche als tumber Schläger und auch Sofie Gråbøls („Forbrydelsen“, das dänische Original zu „The Killing“) undLotte Andersens (ebenfalls „Forbrydelsen“) spätere Karriere steckte noch in den Kinderschuhen.
Fazit:
„Nattevagten“ ist ein ungemein packender Thriller, der dank einer spannenden Inszenierung, einer tollen Besetzung und einer unvergleichlichen Atmosphäre auch 20 Jahre nach seiner Uraufführung zu begeistern weiß. Getrübt wird das Filmvergnügen lediglich durch einen äußerst limitierten Cast, der die Suche nach dem Mörder beinahe nebensächlich erscheinen lässt und eine etwas zu ausufernde, teilweise beinahe überzogene Nebenhandlung. Trotz dieser Kritikpunkte eine klare Empfehlung für jeden Krimi- und Thrillerfan mit starken Nerven.
Wertung: 7,5
Kritik von Christoph Uitz