Bildnachweis: © Arte ||| Szene aus "Ein Lebender geht vorbei"

Die Fortschreibungen von „Shoah“ - Dokumentation – Kritik

von Pascal Reis

Kritik 

Wer Shoah gesehen hat, dieses über 11 Jahre gedrehte Mammutwerk, wird nie wieder anzweifeln, zu welcher Größe das Kino in der Lage sein kann. Claude Lanzmann (Warum Isreal) entwarf mit seinem neunstündigen Epos einen der maßgeblichen Meilensteine der Filmgeschichte: Ohne Archivmaterial erfolgt hier das Rekapitulieren des Holocaust allein über den Dialog. Über den Austausch. Das gesprochene Wort. Lanzmann traf sich mit Zeitzeugen, mit Tätern wie Opfern, und bohrte sich mit einer solchen Beharrlichkeit in das Seelenleben seiner Gesprächspartner, dass die Interviews in Shoah beinahe schon inquisitorische Züge aufwiesen. Doch, und das wird jeder anerkennen, ist genau diese Unnachgiebigkeit vonnöten gewesen, um der Wahrheit, in dessen Dienst sich Lanzmann seit jeher gestellt hat, auf die Spur zu kommen. Nun darf man sich natürlich immer noch fragen, mit welcher Dringlichkeit Claude Lanzmann, Sohn assimilierter Juden, die Fortschreibungen von Shoah veröffentlichte? Ist der Dokumentarist der Meinung anheim gefallen, dass Shoah noch nicht alles zur Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg beigetragen hat? 

Es gestaltet sich jedoch als äußerst müßiges Unterfangen, diese Fortschreibungen, das sind Der Karski-Bericht, Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr und Ein Lebender geht vorbei, auf ihre jeweilige Notwendigkeit abzuklopfen, fungieren sie zwar als stofflicher Nebenfluss, sie flankieren Shaoh im besten Sinne, sind dabei jedoch immer noch von einer nicht minderen Relevanz gezeichnet, weil Claude Lanzmann seiner künstlerischen Devise weiterhin die Treue schwört: Jedes gefallene Wort, jede getätigte Geste, jeder mimische Ausdruck steht hier voll und ganz im verdichteten Dienste der Wahrheit. Gerade Der Karski-Bericht, in dem über eine gut 50-minütige Laufzeit weitere Auszüge aus dem Gespräch zwischen Lanzmann und Jan Karski, einem ehemaligen polnisch-katholischen Widerstandskämpfer, dem 1943 die Ehre zuteil wurde, Franklin D. Roosevelt vom Schrecken der Vernichtung im Osten zu berichten, zu vernehmen sind, macht deutlich, mit welcher Vielfältigkeit die Wahrheit konnotiert scheint, bedeutet sie doch nicht nur, einen Sachverhalt rein formal zu entschlüsseln, sondern auch, diesen zu reflektieren,  verarbeiten, zu vergegenwärtigen. 

Was aber bedeutet unter diesem Gesichtspunkt Wissen? Was bewirken derlei gewichtige Informationen, wie sie Jan Karski, Yehuda Lerner und Maurice Rossel seit jeher mit sich tragen? Wie soll das Gehirn mit der destruktiv-konstitutiven Größenordnung des Holocaust umgehen, handelt es sich doch in der Menschheitsgeschichte um ein beispielloses Verbrechen, welches selbst (oder vor allem?) den Menschen, die das Grauen mit eigenen Augen ertragen mussten, wie ein Gefüge des Unmöglichen erscheint. Gerade dieser Austausch, den Claude Lanzmann in jedem seiner Projekte mit entschiedener Vehemenz forcierte, unterstützt präventiv dabei, dem Vergessen Einhalt zu gewähren und die Vergangenheit, wenigstens intellektuell, zu bewältigen, um die Geschichte davor zu bewahren, in die Mühlen einer Wiederholung zu geraten: „Es gibt heutzutage zwar eine große Anzahl von Museen, Denk- und Mahnmalen. Die aber dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Sie verwalten die Erinnerung, die zur toten Materie wird. Meine Filme sind Gegenmittel dazu.“ - Claude Lanzmann.

Technische Daten

Durch die Neuauflage von "Shoah" und den Folgefilmen von absolut medien (Veröffentlichung: 26. August) bekommt man als geschichtsinteressierter Filmsammler nun die Möglichkeit, sich in einer gebündelten Auflage einen Überblick über das "Shoah"-Gesamtwerk von Claude Lanzmann zu verschaffen. "Der Karski-Bericht", "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" und "Ein Lebender geht vorbei" erschienen bereits einige Jahre zuvor in Einzelveröffentlichung, denen jeweils ein übersichtliches Bookleg beilag. Qualitativ gibt es an diesen Publikationen wenig zu mäkeln, sind die Dokumentationen doch keinesfalls darauf aus, technische Reize auszustellen, sondern fokussieren sich voll und ganz auf das gesprochene Wort. Wer von "Shoah" überwältigt wurde, sollte auch die jeweiligen Fortschreibungen nicht ablehnen.

Fazit

Sicherlich sind die einzelnen Fortschreibungen von "Shoah" nicht in der überwältigenden Dimension anzutreffen, wie das eigentliche, horizontsprengende Hauptprojekt – wie aber soll das auch möglich sein? Man muss die einzelnen Werke vielmehr als Erweiterung, quasi als Nebenflüsse des eigentlichen Geschehens, erkennen. Genau dann steht die Notwendigkeit dieser Auflagen außer Frage, verharren sie doch immer noch voll und ganz in Claude Lanzmanns Credo, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

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