Es gehört quasi zum Protokoll, dass im Vorfeld eines jeden Festivals internationalen Ranges, das etwas auf sich hält, medienwirksam politische Proteste aufbranden. Das Prinzip leuchtet ein: Dort, wo, so zumindest die Hoffnung, die ganze Welt hinsieht, gereicht auch noch die kleinste politische Rebellion zur Schlagzeile. Jene Empörung, die in den Vorwochen der 74. Berlinale entbrannt war, wäre allerdings nur allzu leicht zu verhindern gewesen. Was war passiert? Wie in den Statuten empfohlen, hatte die Festivalleitung mit dem dafür vorgesehenen Ticket-Kontingent Abgeordnete aller politischer Couleur des Berliner Senats zur Eröffnungszeremonie der Berlinale eingeladen, unter ihnen auch fünf im AFD’schen Blau getarnte Braune. Nicht zuletzt in Reaktion auf das Potsdamer Treffen Ende 2023 hatten sich Hunderte Filmschaffende in einem offenen Brief dafür ausgesprochen, die Einladungen der AFD-Politiker*innen zurückzunehmen. Zur Erinnerung: Bei dem Treffen im Gästehaus am Lehnitzsee hatten sich unter anderem Vertreter*innen der AFD mit dem Rechtsextremen Martin Sellner getroffen hatten, um die Möglichkeiten einer sogenannten „Remigration“ von Millionen von Deutschen mit Migrationshintergrund zu besprechen.
Der öffentliche Druck auf die Berlinale, der zusätzlich durch die anhaltenden nationalen Straßenproteste gegen Rechts sowie die internationale Berichterstattung aufrechterhalten wurde, zahlte sich schließlich aus, und so veröffentlichte die Berlinaleleitung um Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian eine Woche vor Festivalbeginn ein Statement, in dem es heißt, dass die AFD-Vertreter*innen schriftlich ausgeladen worden seien. Sie betonten dabei, dass die Berlinale „sich seit Jahrzehnten für demokratische Grundwerte und gegen jede Form von Rechtsextremismus“ engagiere und man „mit Sorge beobachtet, wie Antisemitismus, antimuslimische Ressentiments, Hassreden und andere antidemokratische und diskriminierende Haltungen in Deutschland zunehmen“.
Weitaus weniger Aufmerksamkeit war zuvor indes dem*der Künstler*in Ayo Tsalithaba zugefallen, der*die seinen*ihren Film Atmospheric Arrivals aus der Sektion Forum expended zurückgezogen hatte. Ayo Tsalithaba hatte sich den mehr als 1000 Unterzeichner*innen der Petition „Strike Germany“ angeschlossen — unter ihnen die französische Musikerin und Schauspielerin Yasmine Hamdan, die Schauspielerin Indya Moore und die Literaturnobelpreisgewinnerin Annie Ernaux — die dazu auffordert, deutsche Kulturinstitutionen zu bestreiken. Diese, so heißt es weiter, unterdrückten die Meinungsfreiheit, insbesondere hinsichtlich Solidaritätsbekundungen mit Palästina.
Dass sich die Berlinale bemüht zeigt, diesem Konflikt nicht gänzlich auszuweichen, beweist die Installation des durch Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun erdachte „TinyHouse Israel Palästina“ auf dem Potsdamer Platz. Aufgrund der räumlichen Begrenzung soll dort, zwischen dem 17. und 19. Februar, ein gleichsam offener und intimer Austausch über den Krieg in Gaza ermöglicht werden. Auf filmischer Ebene sticht in diesem Zusammenhang die Dokumentation No Other Land heraus, in dem ein Kollektiv rund um den palästinensischen Aktivisten Basel Adra und den israelischen Journalisten Yuval Abraham von der Zerstörung der Gemeinden von Masafer Yatta im Westjordanland durch israelische Behörden berichten.
Angesichts der derzeit schwelenden globalen Konflikte fällt es schwer, sich bei der Berlinale einzig auf die präsentierten Filme zu konzentrieren. Allerdings hatte das Berliner Film-Festival seit jeher den politischen Anspruch, durch die vorgestellten Werke politisches Bewusstsein zu schaffen und weiterführende Diskussionen anzuregen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern die diesjährige Ausgabe diesem Anspruch gerechtzuwerden vermag.
Neben den geopolitischen Konflikten, die die Diskussion rund um die 74. Berlinale mitbestimmen werden, steht das Festival auch ganz im Zeichen des Abschieds des Direktionsduo Carlo Chatrian und Mariëtte Rissenbeek, unter deren Leitung das Festival seinen Status als diverses und zudem womöglich experimentierfreudigstes der großen drei europäischen Festivals unterstreichen konnte. Insbesondere die Schaffung der Encounters Sektion, die, vergleichbar vielleicht mit der Director’s Fortnight-Sektion in Cannes, etablierten und aufstrebenden Regisseur*innen die Möglichkeit bietet, formal gewagtere Filme auf großer Bühne zu präsentieren, wird auf Jahre mit ihren Namen in Verbindung bleiben. Man darf gespannt sein darauf, welche Neuausrichtung die designierte neue Leiterin, Tricia Tuttle, für das Festival vorsehen wird.
Für ihre letzte Ausgabe konnten Chatrian und Rissenbeek indes die mexikanisch-kenianische Schauspielerin Lupita Nyong'o (Wir, 12 Years a Slave) als Jury-Präsidentin gewinnen, die damit Kristen Stewart aus dem Vorjahr folgt. Für den Nachfolger für den Goldenen Bären, den Stewarts Jury im Vorjahr an Nicolas Philiberts Dokumentation Sur l‘Adamant vergab, hat Nyong'os Jury, denen unter anderem die Regisseur*innen Ann Hui (Boat People), Christian Petzold (Roter Himmel) und Albert Serra (Pacifiction) angehören, dieses Jahr über 20 Wettbewerbstitel zu urteilen.
Unter ihnen befinden sich gleich zwei Debütfilme von Regisseurinnen. Zum einen ist da Gloria!, der vielleicht überraschendste Beitrag des diesjährigen Wettbewerbs, stellt er doch die ersten filmemacherischen Gehversuche der italienischen Sängerin und Schauspielerin Margherita Vicario. Ihre Faszination für Musik und Rhythmus behält sie sich allerdings auch in diesem magisch-realistischen Period Piece bei. Zum anderen ist da Meryam Joobeur, deren Debüt Mé el Aïn uns ins rurale Tunesien führt und von einer Mutter, deren Leben gleich doppelt aus den Fugen gerät: zuerst, als ihre Söhne in den Krieg ziehen, und später, als einer von ihnen mit einer schwangeren Frau zurückkehrt.
Neben den beiden Debütantinnen finden sich auch unterdessen auch einige Regisseure mit Berlinale-Vergangenheit. Der koreanische Tausendsassa Hong Sang-soo etwa, der nach In Another Country (2012) für A Traveler's Needs erneut mit Isabelle Huppert zusammenarbeitet. Auch Alonso Ruizpalacios wird Berlinale-Connaisseur*innen ein Begriff sein, feierten doch all seine Spielfilme — beginnend mit dem Coming-of-Age-Film Güeros, sein Heist-Film Museo und zuletzt, im COVID-Jahr 2021, A Cop Film — ihre Premiere in Berlin.
Traditionell stark vertreten ist Frankreich, das mit neuen Filmen der arrivierten Regisseure Olivier Assayas (Hors du temps) und Bruno Dumonts Weltraumparodie L’ Empire aufwartet. Dazu gesellt sich noch Claire BurgersLangue Étrangère, der ihre Berlinale-Premiere markiert. Aus deutschsprachiger Sicht sind Matthias GlasnersSterben, Andreas DresensIn Liebe, Eure Hilde und Des Teufels Band von Veronika Franz, Severin Fiala hervorzuheben.
Auch auf Black Tea, den neuen Film des malischen Altmeisters mit mauretanischen Wurzeln, Abderrahmane Sissako (Timbuktu), wird zu blicken sein. Dort wandert eine ivorische Frau, nachdem sie ihre Hochzeit platzen lässt, nach China aus, wo sie sich in einen Chinesen verliebt. In Nelson Carlo de Los Santos Arias‘ Pepe kreuzen sich ebenfalls verschiedene Kulturen, aber auch die Zeit scheint in de los Santos Arias‘ viertem Spielfilm, in dem er von einer die Kontinente überquerenden Flusspferd namens Pepe erzählt, schwer greifbar. Auf Pepe, den Chatrian im Rahmen der Pressekonferenz als den am schwierigsten zu klassifizierenden Wettbewerbstitel bezeichnet hatte, wird zu achten sein.
Eröffnet wird die Berlinale am Donnerstag, den 15.02. im Berlinale Palast. Den Auftaktfilm stellt Tim Mielants‘ Romanadaption Small Things Like This, in dessen Zentrum der Oppenheimer-Star Cillian Murphy als Kohlenhändler steht. Dass ausgerechnet dieser Titel als Eröffnungsfilm gewählt wurde, scheint ob der Omnipräsenz, die Christopher Nolans Biopic über den „Vater der Atombombe“ seit seiner Kinopremiere erfahren hat — insbesondere aber seit der 13 Oscar-Nominierungen, die der Film unlängst erhielt — nur folgerichtig. Auf die gleiche Weise, wie man sich von Murphys Präsenz Glamour auf dem roten Teppich vorm Berlinale-Palast verspricht, dürfte man auch die Ankunft Martin Scorseses herbeisehnen, dem im Rahmen der Festspiele der Goldene Ehrenbär verliehen und überdies zum Talk mit Joanna Hogg zu sehen sein wird.
Weniger glamourös, aber nicht weniger interessant, geht es bei der Berlinale auch traditionell in den Nebensektionen Encounters, Panorama, Forum & Forum Expanded, Generation, Berlinale Special, den Kurzfilmen sowie den Klassikern und Retrospektiven her. Es ist leicht, bei den rund 200 Filmen die Übersicht zu verlieren. Lida Bach und Patrick Fey stellen sich dieses Jahr wieder dieser Herkulesaufgabe und berichten von den Höhepunkten und Enttäuschungen, vor allem aber von den kleinen Entdeckungen, die das Festival in jedem Jahr für uns bereithält.