Mensch, Junge, mach etwas aus deinem Leben! So oder so ähnlich kann man den Titel des erfolgreichsten deutschen Films der letzten Zeit wohl verstehen. „Oh Boy“ ist das Regiedebüt von Jan Ole Gerster, der durch ein solches Gesellenstück wohl bald als Meister seines Faches bezeichnet wird.
Das Werk ist vor allem als psychologische Lebensstudie ein Treffer ins Schwarze. Auf den Punkt genau und ohne Schnörkel wird die Gefühlslage eines Endzwanzigers beschrieben. Jedes Bild, jeder Gesichtsausdruck verdeutlicht das „ziellose Wandeln, rastlose Sein“ des Hauptcharakters. Er irrt durch Berlin und stolpert von einer Situation in die nächste. Stürzt sich von einer Konfrontation in die nächste. Und was bleibt, ist der absolut minimalst mögliche Erfolg: ein Kaffee.
Die Struktur von „Oh Boy“ lässt sich am besten mit einem Tagebucheintrag vergleichen. Der Zuschauer erlebt eine kurze Zeitspanne (einen Tag und eine Nacht) aus dem Leben eines jungen Mannes, der an einem Wendepunkt seines Lebens steht. Seine Erlebnisse sind tragisch und komisch zugleich. Diese zwiegespaltene, auf eine gewisse Weise ziellose Stimmung unterstreicht den Gemütszustand der Hauptperson. Er ist nicht mehr, wie er war, und weiß nicht, wie er werden soll. Was seinen Vater aber ärgert, ist, dass er nicht weiß, was er werden soll. So ist er an einem Punkt angelangt, wo er auf der Stelle tritt. Denn die Frage nach dem Wohin hält ihn fest.
Sowohl das Drehbuch, welches ebenfalls von Jan Ole Gerster stammt, als auch die Schauspieler und die Kamera vervollständigen den großartigen Stil des Films und machen ihn zu einer der besten deutschen Produktionen seit Jahren. Das Drehbuch zeigt dem Zuschauer Situationen, die er selbst erlebt hat und die ihm helfen, sich absolut in die Rolle des jungen Mannes hineinversetzen zu können. Die Besetzung gibt ohne Ausnahme eine großartige Leistung ab, allen voran natürlich Tom Schilling als Niko Fischer. Trotz seiner leicht sentimentalen Art zeigt Tom Schilling, dass er ein toller Charakterdarsteller ist, der auf sehr authentische und eindringliche Weise das Innenleben des Niko Fischer zu verdeutlichen vermag. Die Kamera fängt in stimmungsvollen, künstlerischen Schwarz-Weiß-Bildern die leicht bedrückende Atmosphäre der Ziellosigkeit ein.
Darüber hinaus ruft dieser deutsche Film wieder einmal das Gefühl wach, dass das europäische Kino dem amerikanischen voraus ist. Denn wo in amerikanischen Filmen (mit wenigen Ausnahmen) ein leichter Zuckerguss uns die Realität versüßt oder ein Dunstschleier unsere Sicht auf sie trübt, da hat das europäische Kino eine verschärfende Linse. Man hat mehr das Gefühl, dass es um eine realistische Darstellung von Lebenssituationen geht und weniger um das Investieren von Unsummen in Szenenbilder und technischen Hochglanz. Dies zeigt auch „Oh Boy“, der als großartiges filmisches Kunstwerk bezeichnet werden kann, auch wenn er nur die Abschlussarbeit des Regisseurs an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin ist.
So ist „Oh Boy“ jedem kunst- und schauspielinteressierten Filmliebhaber zu empfehlen. Aber auch darüber hinaus ist er so unterhaltsam, bewegend und lebensnah, dass sich jeder Zuschauer daran erfreuen kann.