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DerSiegemund

Kritik von DerSiegemund

Gesehen: August, 1996

„Uhrwerk Orange“ ist ein Film, für den man den Zeitgeist der Nachkriegszeit bis in die 70er Jahre erfassen muss, weil sich dessen Bedeutung erst offenbart, wenn man die gesellschafspolitischen Debatten seiner Zeit kennt. Basierend auf dem Roman von Anthony Burgess, wird hier nicht die amerikanische, sondern die britische jugendliche Wohlstandsgesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg porträtiert, welche aus Langeweile und mangelnden Herausforderungen den Kick in Gewalt und Zerstörungswut sucht. Das Phänomen hedonistische Jugendkriminalität ist eines, welches es in der Vorkriegszeit und der gesamten Geschichte so nicht gegeben hat, denn dort war Gewaltkriminalität entweder Teil des Erwerbslebens oder aus der Not geboren.

Es erscheint paradox, wenn Gewalt aus einer saturierten hedonistischen Jugend heraus entsteht, denn ist doch das Anliegen der Elterngeneration dafür zu sorgen, dass es ihren Kindern einmal besser geht als ihnen selbst. Im Rückblick auf ihre autoritäre Erziehung und ihren Kriegserlebnissen erscheint es geradezu paradox, dass eine Jugend, die fern davon aufwächst, trotzdem einen Zugang zur Gewalt sucht. Ein Film der das gleiche Phänomen quasi schon im Anfangsstadium beobachtet hat ist "Denn sie wissen nicht was sie tun". Natürlich ist es bei beiden Filmen auch eine Rebellion gegen tradierten Moralvorstellungen, die von den 50er bis in die 70er Jahre anhält, doch sie mündet oft genug in sinnlose Gewalt. In Groß Britannien verbreiteten in den 60er Jahren Jugendbanden, wie Rocker, Mods und Skinheads Angst und Schrecken, während die 68er Generation gleichzeitig neue Erziehungskonzepte diskutiert, um sich noch weiter vom Autoritarismus der vorhergehenden Generationen zu entfernen, welcher die Jugend geradezu zum gehorsamen Soldaten heranzog. Der Schutz der Jugend vor ideologischer Verblendung war das Ziel der Nachkriegsgesellschaft, insbesondere der 68er, also verdammte man die alten Konzepte, ohne jedoch durch neue zu ersetzen. Der pädagogische Diskurs war politisch ideologisch geprägt und nicht von wissenschaftlicher Empirie. Einer der Pioniere der Erziehungsstilforschung, der Sozialpsychologe Kurt Lewin, unterschied in drei Führungs- bzw. Erziehungsstile: autoritär, demokratisch und Laissez-faire (antiautoritär). Diese hat er auch empirisch mit Gruppen von Kindern untersucht, wobei beobachtet wurde, dass Gruppen, die nicht geleitet, moderiert oder bewertet werden, was dem antiautoritären Laissez-faire Stil entspricht, Rangkämpfe um die Führung austragen, ohne das moralische Regeln zur Anwendung kommen. Es kommt also zu einem Hauen und Stechen und kindliche Tyrannen übernehmen die Führung. Genauer aufgezeigt hat diese Wirkung der Film „Der Herr der Fliegen“. Die Gesellschaft war in der Breite aber nicht bereit für diese Erkenntnis. Antiautoritäre Erziehung wurde gegen die autoritäre Erziehung in Stellung gebracht und als Allheilmittel für eine freiheitliche und aufgeklärte Bildung und Erziehung gesehen, doch das Ergebnis war eben, dass die Gewalt unter den Heranzubildenden nicht abnahm, sondern zunahm. Seit den späten 1990er Jahren wurde in Deutschland begonnen empirisch untersuchte Erziehungskonzepte ernst zu nehmen d. h. man hat es in 40 Jahren, verursacht durch die ideologischen Grabenkämpfe, bildungspolitisch nicht geschafft Bildung und Erziehung staatlich so zu implementieren, dass aufgeklärte und psychisch stabile an Kindern und Jugendlichen stattfinden kann. Die Umsetzung der Lehren aus der Erziehungsstilforschung, insbesondere nach dem PISA Schock hat eine positive Entwicklung eingeleitet. So haben in den letzten zwanzig Jahren jugendliche Gewaltstraftaten um 50% abgenommen haben. Zurückgeführt wird das auf den Rückgang der Gewalt in Familien, die geringere Zahl an Schulverweigerern und -abbrechen sowie weniger arbeitslosen Jugendlichen, stärkere Missbilligung von Gewalt auch in der Peer-Group, Rückgang des Alkoholkonsums und einem veränderten Freizeitverhalten, doch Ursache liegt in der demokratischen Erziehung zu mehr Selbstverantwortung.

Zur selben Zeit begannen die Anhänger derAntipsychiatrie, sich gegen die Techniken der psychologischen Konditionierung zu wenden und den Missbrauch der Psychopharmakatherapie anzuprangern, der der Protagonist Alex zum Opfer fällt.

So beschäftigt sich „Uhrwerk Orange“ sowohl mit den Motiven der Gewalt- als auch mit dem Rachemotiv. Er hält dem Zuschauer den Spiegel vor, er lockt den Zuschauer, der vielleicht sogar die Auswüchse der Gewalt am Anfang des Films genossen hat, denn sie waren künstlerisch choreographiert und musikalisch klassisch untermalt in Szene gesetzt worden, um die rohe Gewalt zu überdecken, es wir dem Zuschauer vordergründig eine Gewaltverherrlichung vorgetäuscht. Darauf fällt nicht jeder herein und sehr viele geben es nicht zu oder bemerken es nicht einmal. Dieses Stilmittel der Euphemisierung von Gewalt ist ganz exklusiv in diesem Film, es ist prototypisch und hat Novellencharakter, ist also vorher unerhört bzw. ungesehen. Der Umgang mit Gewalt in dieser Zeit war sowieso sehr von Bigotterie geprägt. Die Alten schlugen weiterhin wie sie es vor dem Krieg gelernt haben und von den Jungen erwartete man zivilisiertes Verhalten. Woher soll das kommen, wenn sie keine Vorbilder haben. Wer hier die Distanz zur Gewalt halten und die Verlockung entlarven kann, vielleicht die Gewalt so stark verurteilt, der wird eben in die nächste gestellt Falle tappen und wünscht sich eine Bestrafung für das widerwärtige Verhalten. Das Gericht muss sich übergeben so widerwärtig war die Straftat, doch Gewalt ist der Alltag, auch von der Justiz in den Gefängnissen. Es ist eine Welt die Gewalt lehrt aus der Ohnmacht der Vernunft und wer sich nicht wehrt wird Opfer.

Drittens geht es um das Thema "Resozialisierung" und die verschiedenen neuen Methoden, die man diskutierte, etwas was in den 60ern ein ganz neuer Weg darstellte, wie man mit Straftätern umgeht. Die neuen Methoden wurden von den Hardlinern kritisiert, denn wie kann man Verständnis haben für einen Straftäter. Die Hardliner denken Gewalt müsste man mit Gewalt beantworten, aber wir wissen heute, in unserer postheroischen Nachkriegsgesellschaft, dass Gewalt nur noch mehr Gewalt erzeugt. Für dieses Exemplar von Straftäter kann auch der Zuschauer kein Verständnis haben - wie kann man man einen alten kranken Obdachlosen oder eine schwache Frau schlagen; es kommt heute ebenso vor in unserer Gesellschaft mit dem Überangebot an individueller Entfaltung - aber das ist eben der Fehler, denn nicht jeder Gewalttäter ist verantwortlich, sondern selbst Opfer seiner Umstände. Trotzdem ist dieses Straftäter-Exemplar, der Zuschauer hat es gesehen, ein verwöhntes Arschloch, der keinen milden Umgang verdient hat. Man wird hier wieder verführt ihm einen harte Strafe zu wünschen und die folgenden teils irrwitzigen Experimente an ihm werden hingenommen oder sogar begrüßt. In den 60ern/70ern wurde viel psychologisch und moralisch fragwürdig an Menschen herumexperimentiert z.B. solche Dinge wie Wachhalten und Dauerberieselung also Gehirnwäsche, in Verbindung mit Drogen etc. "Uhrwerk Orange" geht dabei antithetisch vor, zeigt dass der Gefangene einerseits Opfer von Experimenten wird, die bei ihrer teils offenkundigen Plan- und Sinnlosigkeit - man experimentiert so ins Blaue - ein wenig an die Versuche der Nazis und Mengele in den KZs erinnern, die aber schließlich dann doch erwünschte Wirkungen zeigen. Der Zweck (das wilde inhumane Experimentieren an Menschen, auch wenn sie Mörder sind) heiligt die Mittel. Dabei können die Versuchsleiter und Gefängnisbeamten bestimmt auch gut Affekte ausleiten.

Schließlich kommt er geläutert bzw. "normal" aus dem Gefängnis, er ekelt sich nun vor Gewalt. Ist es das Ergebnis von Einsicht oder Konditionierung? Da wirft auf die Frage auf, ob der Mensch zur Einsicht fähig ist. Er hätte danach auch völlig Irre sein können und wie das Schicksal es will, trifft er seine alten ebenso violenten Freunde wieder, denen der Knast erspart geblieben ist, die jetzt die Seite gewechselt haben und Polizisten sind. Sie rächen sich an ihrem ehemaligen Anführer, mit dem sie Spaß hatten, der sie aber auch wie ein Tyrann gepeinigt hat. Nun ist er genauso wehrlos wie einst seine Opfer, denn er kann sich nicht wehren, weil er sich vor Gewalt nun ekelt. Es ist phänomenal, denn bekommt er was er verdient? Oder ist das wieder antithetisch, denn sind jetzt, die Helfer der Justitia, die Polizisten die Ungerechten, Kranken und Irren in dem Spiel und der Resozialisierte der Normale?

Es gipfelt darin, dass er halbtot geschlagen von einem Mann aufgelesen wird, denn er zufälligerweise in den Rollstuhl geprügelt hat. Opfer und Opfer/Täter erkennen sich nicht. Die Peripetie kommt und ist wieder eine Sensation.

Ein Film mit solch einem vielseitigen und tiefgreifendem moralischen Diskurs, mit dem viele Fragen aufgeworfen werden, einer twistreichen Story die am Ende ihren Kreis schließt, kann nur auf geschriebener Literatur basieren. Jeder der den Film kritisiert muss anerkennen, dass Fragen gestellt werden die kaum ein anderer Film stellt.

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