Es war nicht alles schlecht. Verdammt viel, ja, aber nicht alles! Obwohl die diesjährige Filmauswahl im doppelten Sinne vorführte, wie dringend das Festival eine Entschlackungskur braucht, gab es einige strahlende Filmperlen zu entdecken. Darunter wieder zahlreiche Dokumentationen, von denen hier bewusst nicht alle gelistet wurden. Immerhin sollen ja die Spielfilmfans hier nicht so enttäuscht werden, wie die Kritikerriege regelmäßig auf den Berlinale-PVs.
Letztes Jahr war die irische Hungersnot Filmthema Im Wettbewerb. Dieses Jahr folgt Agnieszka Holland den Spuren der Journalisten-Ikone Gareth Jones in die Ukraine. Dort fordert der Holodomor Millionen Opfer - was nicht nur Stalin & Genossen um jeden Preis vor der Weltöffentlichkeit vertuschen wollen.
Nora Fingscheidt zeigt in ihrem differenzierten Sozialdrama ein unberechenbares Kind im Karussell des überforderten Sozialsystems. Ohne Schönmalerei und verlogenes Mitleid, dafür mit einer genialen Jungdarstellerin, offenbart das Spielfilmdebüt kontraproduktive Strukturen und lässt dennoch Platz für Hoffnung, die Mauer aus Angst und Aggression bei Problemkindern zu überwinden.
Wo anfangen bei einem Biopic über Merata Mita? Kino-Heldin, Bürgerrechtlerin, Frauenrechtlerin, Aktivistin, Künstlerin: Die Frau, die neuseelands Filmlandschaft für immer veränderte, war vieles und noch mehr. Ihr jüngster Sohn Hepi tritt mit der dynamischen Lebenschronik in die übergroßen filmischen Fußstapfen seiner Mutter.
Mit präzisen dokumentarischen Porträts hat sich Kim Longinotto einen Namen gemacht. Ihre jüngste Reportage zeigt Lebenswerk und -kampf von Photojournalistin Letizia Battaglia. Sie ist bekannt für ihre furchtlosen Aufnahmen mafiöser Verbrechen. Nicht nur wegen der blutigen Schnappschüsse kein Film für Softis.
Alles kann jeden Moment zusammenbrechen: Zukunftspläne, Freundschaften, Hoffnungen und Weltbilder. Kim Bo-ra folgt in ihrem semi-biografischen Zeitbild einer Jugendlichen durch das Korea der 90er, auf der vergeblichen Suche nach Verständnis und Stabilität.
Freda Glynn ist eine Ikone des indigenen australischen Films; eine unbeirrbare Kämpferin für Sichtbarkeit & Diversität, gegen Diskriminierung & Gewalt. Letzte zieht sich als roter Faden durch die Biografie der Bürgerrechtsaktivistin. Nicht nur für Cineasten ist das bewegende Portrait, festgehalten von Tochter Erica Glynn, ein Muss.
Fanfare: Mein Bären-Kandidat! Eine siebenköpfige Gruppe junger Menschen strebt im China nach der Kulturrevolution nach dem kleinen Arbeiterglück. Das entpuppt sich als falsches Staatsverprechen, dass Diktatur, Schicksalsschläge und tragischwr Fehler zu nicht machen. Wang Xiaoshuais Epos, gespickt mit sarkastischer Systemkritik, enthüllt eine Gesellschaft geprägt von oppressiver Politik, doch ebenso von unverbrüchlichem menschlichen Zusammenhalt.
Thunfisch-Pizza, Krabbensalat, Sushi-Snackbox - alles zum Spottpreis vom Discounter oder Fast-Food-Lokal. Der unersättliche Hunger nach Fisch & Meeresfrüchten hat nicht nur einen hohen ökologischen Preis, sondern einen menschlichen. Shannon Service gibt den gekidnappten Sklavenarbeitern, die ihn zahlen müssen, eine Stimme auf ihrer Doku-Reise an der Seite Patima Tungpuchayakus.
Herausfordernde Kritik an einer erstickenden Zeitmoral, brutales Familiendrama und sardonischer Witz gipfeln in einem Figurenstück ohne Netz, dafür mit doppeltem Boden und surrealistischen Intermezzi. Xiang Zis Debüt ist ein schmerzlich trauriger, absurd komischer Triumpf des jungen chinesischen Kinos.
Agnés Varda rocks. Darum muss sie im Gegensatz zu so manchen männlichen Kollegen nicht ständig um Aufmerksamkeit betteln, indem sie ankündigt, fortan dem Kino den Rücken zu kehren. Die Mutter der Nouvelle Vague dreht weiter und weiter, ein Werk schillernder, lebensfroher, gewitzter als das nächste. Ihr facettenreiches Autobiopic plaudert nicht einfach von Inspiration, es befördert sie.