Inhalt
Rostock-Lichtenhagen 1992. In der verödeten Wohnsiedlung hängen die Jugendlichen herum und wissen nichts mit sich anzufangen. Tagsüber gelangweilt, harren sie der Nächte, um gegen Polizei und Ausländer zu randalieren. Auch Stefan, der Sohn eines Lokalpolitikers, streift mit seiner Clique ziellos durch die Gegend. Es brodelt, aber immer nur bis kurz vor dem Siedepunkt. Ohne Job und eine Aufgabe finden die Freunde nur sich selbst als Ziel kleiner und größerer Grausamkeiten. Liebe ist austauschbar, Freundschaft und Loyalität sind nur Beiwerk einer aufgesetzten Ideologie. Auch Lien lebt mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin in der Siedlung, im sogenannten Sonnenblumenhaus, das von Vietnamesen bewohnt wird. Sie glaubt in Deutschland eine Heimat gefunden zu haben und will auch nach der Wende bleiben. Ihr Bruder dagegen plant die Rückkehr, weil er vor dem Hintergrund der wachsenden Anfeindungen um die Zukunft seiner Familie fürchtet.
Kritik
Molotow-Cocktails und die Mühlen der Politik
Die desaströse Orientierungslosigkeit perspektivloser Jugendlicher explodiert in der aufgeladenen Sommerhitze der ostdeutschen Stadt Rostock am 24. August 1992. Zwischen Plattenbauten und Schutthalden, mit Dosenbier und Zigarette in der Hand, spekulieren sie auf Veränderung oder trauern der DDR-Vergangenheit hinterher. Die Freiheit nach der Wende ist für die jungen Menschen eher eine Belastung als eine Wohltat, denn nun ist verstärkt Entscheidungsfähigkeit gefragt. Welchen Beruf ergreifen, welche Pläne schmieden, welches Leben leben? Nicht nur sie selbst stehen in ihrer Entwicklung an einem Wendepunkt, dem Übergang ins Erwachsenenalter, auch ihre Heimat muss sich neu strukturieren und organisieren. So ist Haltlosigkeit vorprogrammiert.
Burhan Qurbanis´ „Wir sind jung.Wir sind stark.“ versucht nicht, die Motive der Menschen zu ergründen und sie in Schwarz und Weiß einzuteilen, sondern bietet in der Optik seiner Schwarz-Weiß-Bilder eine Projektionsfläche für den Zuschauer. Das unterscheidet den Film von vielen anderen geschichtsmoralischen Pseudo-Lehrstücken, die mit dem Hammer versuchen, ihre durchaus berechtigten Inhalte in die Köpfe des Publikums zu treiben. Basierend auf dem Drehbuch, das Qurbani zusammen mit Martin Behnke verfasste, entwickelt der Film eine verbale wie visuell-poetische Kraft, die dem Thema Fremdenhass auf differenzierte Weise beizukommen versucht. Der Regisseur selbst sah die Ereignisse an besagtem Datum im Fernsehen und fühlte sich als Sohn afghanischer Eltern in vieler Hinsicht erschüttert. Mit „Wir sind jung. Wir sind stark.“ verarbeitete Burhan Qurbani in gewisser Weise dieses Erlebnis und schuf einen Film, der heute leider so aktuell ist wie kaum ein anderer.
Die Geschichte umfasst den Tagesablauf des 24. August 1992 aus drei Perspektiven. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe Jugendlicher, die, geplagt von Langeweile, in die Geschehnisse am Sonnenblumenhaus und den Kampf mit der Polizei eingreifen. Sandro (David Schütter) ist der nervöse, politisch rechts orientierte Anführer der Gruppe. Sein abgedrehter Bruder Robbie (Joel Basman) ist eine tickende Zeitbombe, wenn es um Emotionskontrolle geht. Sowohl Robbie als auch sein Freund Stefan (Jonas Nay), welcher der ruhige Kopf der Bande ist, sind in Jennie (Saskia Rosendahl) verliebt, die es meisterhaft versteht, mit den Gefühlen ihrer Verehrer zu spielen. - Der zweite Erzählstrang beschäftigt sich mit dem Lokalpolitiker Martin (Devid Striesow), der Stefans Vater ist und einen inneren Kampf mit sich selbst ausficht. Als seine Entscheidung, die Asylbewerber nicht zu evakuieren, von seinem Vorgesetzten übergangen wird, beschließt Martin, die Proteste vor dem Sonnenblumenhaus aus nächster Nähe zu verfolgen. - Die dritte Perspektive vermittelt dem Zuschauer einen Einblick in das Leben und die Ängste der Vietnamesen, die nicht in eine andere Unterkunft verlegt wurden und am Ende sogar auf den Schutz der Polizei verzichten müssen. Das Augenmerk liegt hierbei auf Lien (Trang Le Hong), die gerade von ihrem Chef eine Arbeitsbestätigung bekommen und damit Aussicht auf Genehmigung ihres Asylantrags hat.
Während die Szenen mit der Jugendgang einen unheimlichen psychologischen Sog entfalten und vor allem die Rolle des Robbie von brachialer, unberechenbarer Wucht zeugt, vermag das Innenlebenpanorama des Lokalpolitikers nicht vollends zu überzeugen. Zu oft wird derZuschauer angehalten, in der zwiegespaltenen Mimik Devid Striesows die Gedankengänge des Entscheidungsträgers zu ergründen. Die Metaphorik der Bilder des Alleinseins und der innerlichen Kämpfe muss nicht unbedingt als prätentiös bezeichnet werden, ist aber an vielen Stellen einfach nicht schlagkräftig genug. Und auch die Streitgespräche zwischen den Fronten der Politiker, den Idealisten und den Konservativen, hätten die eine oder andere Szene mehr vertragen können. Dagegen kann die dritte Ebene, die Sichtweise der Vietnamesin Lien, wiederum als intensive, nahegehende Charakterstudie bezeichnet werden, die für eine Filmlänge in dieser Größenordnung bewundernswert facettenreich ausgefallen ist.
Welch eine Wohltat ist dieses filmische Werk in Anbetracht seines authentischen, vollkommen klischeefreien Inhalts und der hochkünstlerischen Bildästhetik. Burhan Qurbani lag goldrichtig mit seiner Entscheidung, die Filmhochschule in Ludwigsburg zu besuchen und Regisseur zu werden. Seine Bildinszenierung bringt eine frische Note in die deutsche Filmlandschaft. Selbst heruntergekommene Kulissen wie die Plattenbauten oder verwüsteten Parkplätze Rostocks sehen durch seine Sicht kunstvoll aus. Seine Art der Inszenierung und vor allem die musikalische Untermalung lassen unvermeidlich Parallelen zu Nicolas Winding Refns Filmen wie „Drive“ oder „Only God Forgives“ aufscheinen. Wenn man genauer hinschaut, fallen einem auch Details wie die Jacke von Philipp als Pendant zu Ryan Goslings Jacke in „Drive“ ins Auge. Aber wer kann es Burhan Qurbani schon verdenken, dass er zur jungen Elite kreativer Filmemacher gehören möchte? „Wir sind jung. Wir sind stark.“ bringt ihn definitiv näher an dieses hehre Ziel.
Fazit
Mit „Wir sind jung. Wir sind stark.“ brachte uns der Regisseur ein starkes Stück deutschen Films auf die Leinwand. Seine Erzählung der dramatischen Ereignisse in Rostock vor über zwei Jahrzehnten ist so fesselnd wie faktenorientiert und ermöglicht dem Publikum einen individuellen Realitäts- und Aktualitätsbezug. An der Spitze der ausgezeichneten Darsteller steht Joel Basman, der zu Recht den Deutschen Filmpreis als bester Nebendarsteller für seine impulsive, elektrisierende Interpretation des orientierungslosen Jugendlichen Robbie erhielt. Ein Blick in die benommene Seele desorientierterJugendlicher, eine Präsentation aktueller Fragen wie Fremdenhass und Rassismus, ein dezenter Wink Richtung Armutszeugnisse der Politik. Nicht weniger ist diese Überraschung des deutschen Films!
Autor: Jonas Göken