Elmas (Narges Rashidi, »Kokowääh 2«) erzählt Geschichten, um es für ihre Kinder einfacher zu machen — und für sich selbst. Eine der Geschichten ist das Märchen von den glücklichen Schafen, das sie Tag für Tag in ihrem Notizbuch weiterschreibt, um es abends der kleinen Sevgi (Marlene Metternich) am Bettrand vorzulesen; das Märchen von der Schafsmama, die alles tut, damit ihre beiden Lämmchen glücklich sind. Es ist die Geschichte der kleinen Familie und des Films selbst.
Eine andere Geschichte ist die von der Arbeit im Krankenhaus. Kein Märchen, sondern eine Lüge, und als der gerade sechzehn gewordene Can (Jascha Baum) feststellen muss, dass seine Mutter in Wahrheit anschaffen geht, ist es für ihn vorbei mit dem Familienglück. Can läuft von daheim weg, zieht sich von allen zurück, auch seinen Freunden, wird wortkarg und aggressiv. Anders als Elmas ist er kein Geschichtenerzähler: Er findet keine Worte für das, was ihn beschäftigt. Und er will sie zunächst auch gar nicht finden.
Sprachlosigkeit — nicht nur Cans — ist ein wichtiger Bestandteil des Films. Viele Szenen in dieser Familiengeschichte funktionieren über wortlose Blicke und unbehagliches Schweigen. Elmas erzählt Geschichten, doch ihrem Vater (Vedat Erincin, »Almanya«) hat sie nichts zu sagen, und das liegt nicht nur an der Sprachbarriere, denn sein Deutsch ist so behäbig und schwerfällig wie der alte Mann selbst. Man mag nicht glauben, dass Elmas’ Vater Geschichten erzählen könnte. Aber letztlich ist auch er, genau wie seine Tochter, genau wie Can, auf der Suche nach den richtigen Worten.
Wo es um die ruhigen Momente zwischen den Figuren geht, um liebevoll beobachtete Details des Alltags, um Augenblicke von Schweigen und Sprechen, da ist »Von glücklichen Schafen« ein gekonnt und eindringlich inszenierter Film mit starken Darstellern: ein Kaleidoskop berührender Szenen, Momentaufnahmen und kleinschrittiger Entwicklungen. Gerade die Vertrautheit zwischen Elmas, Can und Sevgi wird am Anfang mit wenigen Bildern glaubhaft und plastisch eingefangen, und umso stärker hebt sich das beklommene Schweigen davon ab, das einkehrt, sobald der Großvater als ungewohnter Gast mit am Esstisch sitzt. Und ganz besonders die kleine Sevgi mit ihrer Liebe zum Ballett und ihren Regenwürmern im Einmachglas ist ein mit Freude am Detail ausgearbeiteter Charakter. Einige seiner stärksten und warmherzigsten Szenen verdankt der Film Sevgis Interaktion mit dem Großvater.
Das Hauptaugenmerk der Handlung liegt allerdings auf der Beziehung zwischen Elmas und Can. Auch hier funktioniert der Kaleidoskop-Blick — aber gerade das ist auch eine Schwäche. Denn wo Regisseur Kadir Sözen im Einzelnen bis in die Tiefe stimmige Szenen zwischen Mutter und Sohn einzufangen weiß, krankt der Film streckenweise am roten Faden, der diese Szenen verbinden sollte. So überzeugend und schockierend der Konflikt zwischen Elmas und Can eingeleitet wird, so glaubhaft die Schockstarre zunächst ist, in die beide auf ihre Art verfallen, so unbeholfen und schwerfällig entwickelt sich der Konflikt letztlich weiter. Während die Sprachlosigkeit zwischen den Figuren immer wieder überzeugt, weil sie Raum lässt für andere Einzelheiten, wirken die Dialoge oft schwach und wenig nachvollziehbar.
Insgesamt scheint sich »Von glücklichen Schafen« häufig zu wenig auf seine tatsächlichen Stärken verlassen zu wollen, die vor allem im Figurenensemble und den sich entwickelnden Beziehungen zwischen ihnen bestehen. So kommen an einigen Stellen Klischees ins Spiel, die nicht nötig gewesen wären, und wenn die gläubige Muslima Elmas, getrieben von dem Willen nach einem neuen Leben, gerade in einer christlichen Kirche einen Minijob als Putzfrau annimmt, beschreitet der Film erzählerisch einen schmalen Grat: Auf der einen Seite bietet auch dieser Handlungsstrang wieder einige starke Momentaufnahmen und spricht die Möglichkeit des religiösen Dialogs mit wohltuender Selbstverständlichkeit an. Auf der anderen Seite bekommt das Motiv der reuigen Hure auf diese Weise einen moralisch säuerlichen Beigeschmack, der den Film unnötig schwächt. Und auch die Gestalt von Elmas’ Zuhälter Klaus (Benno Fürmann, »Der blinde Fleck«) trägt nicht gerade dazu bei, das Ensemble bisweilen zu klischeehafter Darstellungen zu durchbrechen.
Letztlich will »Von glücklichen Schafen« viel auf einmal — die Geschichte einer Familie und jedes einzelnen Mitglieds erzählen. Das führt dazu, dass der Fokus meist nur in der Momentaufnahme überzeugt, im großen Ganzen aber zu unruhig wirkt. So entwickelt sich insbesondere die Beziehung zwischen Can und dem Großvater zu rasch, und jene zwischen Can und Elmas erscheint zuweilen sprunghaft und nicht vollkommen nachvollziehbar. Cans folgenschwerste Tat im ganzen Film scheint in der Interaktion mit seiner Mutter beinahe keine Konsequenzen zu haben, und auch wenn Elmas’ mögliche Hilflosigkeit davor verständlich ist, wird hier zu wenig thematisiert, als dass es sich plausibel anfühlen würde. Das ist schade, denn im Gesamtbild verschenkt »Von glücklichen Schafen« Potenzial, das im Detail durchaus angelegt ist, gerade in dem wundervollen Motiv des Geschichtenerzählens.