Zu den schlimmsten Ängsten des Menschen zählt sicherlich der Gedanke, von einer Sekunde auf die nächste unvorhergesehen aus dem Leben gerissen zu werden. Tag für Tag bewegt man sich durch einen Alltag, der in möglichst geregelten Bahnen verlaufen soll, dabei genügen bereits kleinste Erschütterungen in unserer Membran der vermeintlichen Sicherheit, um ein ganzes Menschenleben erlöschen zu lassen.
Als die Studenten am 01. August 1966 wie gewohnt über den Campus der University of Texas in Austin laufen, dürften ihre Gedanken wohl auch bei vielen verschiedenen Dingen gewesen sein, nur nicht bei dem Mann, der sich hoch oben im Tower der Universität mit mehreren Schusswaffen verschanzt hat und plötzlich das Feuer auf sie eröffnet. Der daraus resultierende Amoklauf zog 16 Tote und 32 Verletzte nach sich, wobei das Ereignis ein ganzes Land erschütterte, welches mit solch einer Form von unverständlicher Gewalt zuvor noch nicht konfrontiert wurde. In Tower lässt Keith Maitland (The Eyes of Me) den gesamten Tag noch einmal vor den Augen des Zuschauers Revue passieren, wobei sich der Regisseur einer Kombination unterschiedlicher filmästhetischer Stilmittel bedient, um das Unbegreifliche auf intensive Weise zu neuem Leben zu erwecken.
Mithilfe des Rotoskopie-Verfahrens, das beispielsweise auch schon Richard Linklater (Boyhood) für Waking Life und A Scanner Darkly - Der dunkle Schirm verwendete, verwandelt der Regisseur Aussagen von damaligen Überlebenden und Augenzeugen in animierte Bilder, die Maitland mit realen Archivaufnahmen kombiniert. Geglückt ist ihm damit ein ebenso aufregendes wie innovatives Konzept, das die Ereignisse des Amoklaufs fast minutiös vor den Augen des Zuschauers entfaltet und ihn in Echtzeit am Verlauf der Geschehnisse teilhaben lässt.
Tower ist ziemlich genau 50 Jahre später aber vor allem denjenigen gewidmet, die bis heute untrennbar mit jenem Datum verbunden sind, an dem zugleich Leben beendet und gerettet wurden. Wenn die Stimmen der Hinterbliebenen bei ihren Erzählungen des damaligen Vorfalls zu zittern beginnen, sich die Augen der tatsächlich Betroffenen, die erst später enthüllt werden, mit Tränen füllen und selbst unscheinbare Details wie die Haarfarbe einer Frau, die einer angeschossenen, schwangeren Frau in einem unglaublich selbstlosen Akt zur Hilfe eilt, beschrieben werden, erweckt Maitlands Film den Eindruck, als sei der Amoklauf erst wenige Wochen alt.
Der Regisseur verleiht seinem Werk zweifellos das Gewicht eines mitreißenden Thrillers, wenn zwei Polizisten schildern, wie sie sich bewaffnet durch den Tower nach oben zum Schützen vorbewegen oder Passanten mutig und ohne jeglichen Schutz in das Zielfeld rennen, um Opfer aus der Schusslinie zu befördern. Darüber hinaus entstehen in Tower jedoch viele, kleine Charakterporträts von Menschen, die auch Jahrzehnte später nicht vergessen können, was sie schon damals nicht verstehen konnten, die vergeben, obwohl ihnen grausamstes Leid widerfahren ist und die durch ihren gemeinsamen, solidarischen Einsatz einen Akt bewegender Menschlichkeit erzeugten, die der Schütze, der in diesem Film aufgrund vager Hintergrundinformationen sowie zweitrangiger Fokussierung nie eine Bühne erhält, unbedingt auslöschen wollte.