“Oh, I don’t care
where autumn clouds
are drifting to”
-Bufu, 1792
Das Avantgarde-Stück “4’33’” des Komponisten John Cage besteht aus drei Akten, enthält aber weder Noten noch Musik. Live aufgeführt darf das Publikum dem Interpreten des Stückes fast 5 Minuten dabei zusehen, wie dieser regungslos vor einem Klavier sitzt, bis er sich schließlich verbeugt. Der Effekt, der durch diese Form von „Nicht-Musik“ eintritt, hinterlässt Fragen: Sind die Geräusche um den Saal herum die eigentliche Musik oder geht es darum, die Stille erfahrbar zu machen? Obwohl es fast vermessen wirkt, diese Form von (Anti-)Kunst mit C.W. Winter und Anders Edströms Film The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin) zu vergleichen, besteht der Film des schwedischen Regie-Duos aus viel mehr als der Abwesenheit von künstlerischen Komponenten, so geht von beiden Werken eine ähnliche Wirkung aus. Musikstück als auch Film enthüllen den Akt des Hörens/Sehens als Geste, welche einem Ritual gleichkommt. Winter und Edströms Film acht Stunden andauernder Film ist in fünf Teile („Bücher“) eingeteilt, getrennt durch drei künstlerisch intendierte Pausen. Jeder Teil eröffnet mit einem Gedicht aus dem Band „Japanese Death Poems: Written by Zen Monks and Haiku Poets on the Verge of Death“ (ein Beispiel davon ist oben angeführt), gefolgt von einem, mehrere Minuten andauernden, Schwarzbild. Vorangestellt ist hier das Warten auf das erste Bild, einen Zustand, der exemplarisch für den ganzen Film steht. Das Warten ist es, was der Film durch seine erweiterte Laufzeit provoziert und thematisiert. Dabei geht es nicht darum, auf etwas zu warten, sondern um den Zustand an sich, welchen der Film immersiv und meisterhaft einfängt.
Die fünf Teile des Filmes stehen jeweils für eine Jahreszeit, die das Publikum im Setting des Filmes, einem 47-Seelen Gebirgsdorf irgendwo in Japan, erleben darf. Der Film strukturiert sich ganz nach seinem Titel: Im Fokus steht die Bäuerin Tayoko Shiojiri (Tayoko Shiojiri), welche mit ihrem Ehemann Junji (Kaoru Iwahana) den Gegebenheiten des Alltags nachkommt. Jeden Tag um 5 Uhr 20 wird die Wäsche rausgebracht, die Landarbeit besteht aus Säen und Ernten sowie dem Handel mit Tomaten und Reis. Als Entspannung bleibt ein Spaziergang durch die Wälder, ein Eintrag in Tayokos Tagebuch und als Highlight abends ein Go-Spiel im Fernsehen, für welches der Film fast schon eine Art Nebenhandlung entwirft. Eines Tages aber wird Junji schwer krank und langsam schleichen sich Variationen in den Alltag des Paares ein. Im Angesicht der Zeit, welche langsam und sicher verstreicht, stehen beide schließlich vor der Frage, wie lange ihnen denn eigentlich noch bleibt. Am Ende des Filmes sind 14 Monate erzählte Zeit und für das Publikum des Filmes fast ein ganzer Tag an Spieldauer vergangen. Ein Tag, an welchem man einem Leben befreit von jeglichem schnellen Rhythmen eines urbanen Lebensstils entkommt und sich einem meditativen Blick auf die Welt hingeben darf. Durch seinen Fokus auf das Verstreichen der Zeit bewegt sich der Film an der Grenze eines vollendeten Realismus, obgleich der Film in manchen Momenten damit bricht und sich dem magischen Realismus nähert.
Ähnlich wie Cages Musikstück die Grenze zwischen Kunst und dessen räumlicher Umgebung verschwinden lässt, isolieren Winter und Edström die Trennung zwischen fiktionaler Narration und authentischem Dokument. The Works and Days fühlt sich über weite Teile der Laufzeit zwar wie eine Dokumentation an, zumal Tayoko und die restlichen Dorfbewohner sich selbst spielen, ist aber tatsächlich eine filmisch abgewandelte Nacherzählung von 14 Monaten aus einem Leben. Die Nähe an der dokumentarischen Form ergibt sich aus der strengen Beobachtungsgabe für die Umgebung des Dorfes. Während andere Filme die geografische Umgebung um die Geschichte herum miterzählen, geschieht dies in Edström und Winters Film umgekehrt: Das Narrativ um Tayoko und Junji wird beiläufig eingefangen, der Fokus liegt auf der Umgebung, welcher einen Großteil der Laufzeit gewidmet wird. In sehr langen Sequenzen erzählt der Film unter anderem den Übergang von Tag und Nacht durch das Schneiden von abendlichen Waldaufnahmen zu Häusersilhouetten und zum Sternenhimmel. The Works and Days erfüllt und negiert dabei gleichzeitig die Elemente der etablierten Slow-Cinema Bewegung von Filmemachern wie Lav Diaz, Béla Tarr, Tsai-Ming Liang oder Wang Bing. Im Gegensatz zu den Werken der genannten Filmmachern verfügt The Works and Days über ein relativ dynamisches Schnitttempo. Anders als beispielsweise das Einfangen von mondänen Aktivitäten, wenn etwa Tarr seine Figuren in vielen seiner Filme nach einer Szene noch minutenlang auf dem Nachhauseweg begleitet, inszenieren Ebström und Winter den Ablauf des Alltags nicht direkt gebunden an eine narrative Kausalität.
Generell greifen Edström und Winter auf sehr unkonventionelle filmische Methoden zurück. Die digitale Kameraarbeit in Kombination mit der Verwendung von 16mm Linsen erzeugt einen einzigartig verfremdeten Blick auf das Gebirgsdorf, welcher das Dargestellte in einen verträumten Schleier hüllt. In Kombination mit dem Tondesign, das so umfangreich konzipiert wurde, dass es jedes Vogelgezwitscher des Waldes und jedes vorbeifahrende Auto einfängt, ergibt sich ein Film, der einem Ambiente-Kunstwerk gleichkommt, welches einen beruhigend, immersiven Frieden vermittelt. Jedoch verkommt diese Atmosphäre nie zu einem Selbstzweck, sondern ist integriert in einen klaren narrativen Rahmen. Eine beispielhafte Sequenz dafür ist eine Autofahrt im zweiten Teil des Filmes: Statt des Verkehrslärms sind nur die Geräusche der Vögel zu hören, auch das Gespräch der Fahrzeuginsassen ist völlig stumm und wird nur durch die Untertitel vermittelt. Der Film vereint hier mehrere filmische Ebenen: Zum einen die Umgebung, vermittelt durch die Tiergeräusche, welche als fest integrierter Bestandteil des ländlichen Lebensstils unumgehbar bleibt, dann das Gespräch, eine Geschichte um einen Sohn, der nach der Rückkehr aus dem Krieg die Leiche seines verstorbenen Vaters ausgraben lässt um sich von ihm zu verabschieden, und schließlich die Autofahrt selbst. Eine geradlinige Bewegung nach vorne, welche jedoch, durch die Positionierung des Rückspiegels im Zentrum des Bildes, selbst wie ein ewig währender Stillstand wirkt.
Erst im weiteren Verlauf der 14 Monate wird die konkrete Bedeutung dieses Zeitabschnitts im Leben von Tayoko enthüllt. The Works and Days offenbart sich bei der voranschreitenden Laufzeit immer mehr als Porträt einer Frau, deren Leben sich schleichend verändert bis, sobald die Wiederholung des ewigen Zyklus der Jahreszeiten wieder von neuem beginnt, nichts mehr so ist wie es einmal war. Fast wirkt es paradox das es gerade die erzählerische Distanz es ist, welche das Leben von Tayoko und Junji so greifbar macht. Der meditative Blick schafft es die Mentalität der beiden langjährigen Dorfbewohner spürbar werden zu lassen. Tayoko und Junji kennen das Land und die Arbeit, die man für es leisten muss. „Es wirkt als würden die Bäume sprechen“, heißt es an einer Stelle. Obwohl dem Film eine idealisierende Verklärung des Naturzustands fern ist so singt er doch ein stilles Lied über das, frei nach Henry David Thoreau, „bewusste“ Leben. Ein Leben in voller Aufmerksamkeit für den Kosmos, der die Menschen und ihr ewiges Treiben umgibt. Für dieses bewusste Leben steht das Gebirgsdorf, welches die Zeit überdauert und sich mit jeder voranschreitenden Filmminute irgendwann fast wie ein Stück Zuhause anfühlt.