Wie Barbie-Puppen sehen die beiden jungen Frauen aus, als sie der Manager eines polnischen Nachtclubs zum ersten Mal nackt auf der Couch in einem der Hinterzimmer des Etablissements erblickt. Wo diese mysteriösen Schönheiten, die sich beide mit Namen nur als Silber und Gold ausgeben, genau herkommen, ist für den Manager aber schon recht bald nicht mehr von Bedeutung. Die beiden Frauen, die offenbar aus den Tiefen des Meeres stammen und denen eine lange Schwanzflosse wächst, sobald sie mit Wasser in Berührung kommen, versprühen von Anfang an eine Ausstrahlung, der sich niemand um sie herum entziehen kann. Für den Manager steht sofort fest, dass er die beiden als Neuzugang in seinem Club aufnehmen und für die dortigen Auftritte, welche Gesang, Performance und Striptease verbinden, nutzen will.
Diese Schilderung einer angehenden Handlung wird dem Kern von Agnieszka SmoczynskasThe Lure allerdings nur annähernd gerecht. Der Film der polnischen Regisseurin ist vielmehr ein vor kreativen Impulsen geradezu übersprudelnder Hybrid verschiedenster Einflüsse, Vorlagen und Stilmittel, der wie jedes bemerkenswerte Stück Kino selbst erfahren werden muss. Als Meerjungfrauen-Horror-Musical, dem zugleich tieftragische Untertöne innewohnen und das trotz eines markanten Fantasy-Einschlags mehr über das Menschsein aussagt als so manchen womöglich lieb ist, stellt The Lure sicherlich ein Novum in der Filmlandschaft dar. Smoczynskas Film gestaltet sich dabei selbst wie ein filmgewordener Sirenengesang, der den Betrachter unentwegt mit seinen Reizen betört und in einen euphorisierten Rauschzustand verführt.
Schon die Anfangssequenz, in der die beiden Meerjungfrauen in den 80er Jahren ein paar Männer am Ufer immer näher zu sich locken, indem sie kurze Textzeilen wiederholt singen, entfaltet eine hypnotische Sogwirkung, welche die atmosphärische Kraft des Films innerhalb weniger Minuten verdeutlicht. Nachdem die fremdartigen und doch anziehenden Frauen von der Band am Strand in den Nachtclub gebracht werden, in dem die Musiker regelmäßig spielen, verströmt The Lure eine exzessive Energie, die aufgrund der dynamisch schwebenden Steadicam-Fahrten durch die Räumlichkeiten des Clubs und des Hangs zu ausgelassenen Musical-Montagen an poppigen Kino-Bombast im Stil eines Baz Luhrmann (Moulin Rouge) erinnert.
Mit den knallbunten Kostümen und der prunkvollen Ausstattung aus den Filmen des Australiers sollte man Smoczynskas Vision allerdings nicht gleichsetzen. Im Polen der 80er Jahre, das die Meerjungfrauen scheinbar nur als Zwischenstation auf einer schier ewig während Reise durch die Meere der Welt angepeilt hatten, werden die beiden schließlich zu Opfern ihrer unbändigenden Neugier. Im Inneren des Nachtclubs, der sich irgendwo im Herzen des trostlosen, kaum einladenden Warschaus befindet, zeigt die Regisseurin die zunehmende Objektifizierung der beiden Frauen, die von ihrem Umfeld vollständig auf ihre attraktiven Körper sowie bezirzenden Stimmen reduziert werden.
Würde man die fantasievolle Komponente der Meerjungfrauen aus The Lure entfernen, könnte der Film problemlos als Parabel auf ein Land verstanden werden, das seine eigenen Kinder in Form heranwachsender oder junger Frauen schonungslos ausbeutet und einem trostlosen Schicksal ausliefert, bei dem die Persönlichkeiten der jeweiligen Menschen zugunsten von kalkulierten Profiten ausgelöscht werden. Auch wenn Smoczynska ihre weiblichen Hauptfiguren lange Zeit mit strahlenden Gesichtern und einer dominierenden Charakterstärke in den Vordergrund rückt, offenbart die Regisseurin nach und nach Probleme und Komplikationen, die das Leben in herkömmlicher Menschlichkeit für die Meerjungfrauen mit sich bringt.
Während sich Silber in den Bassisten der Band verliebt, wird Gold von einem Hunger geplagt, der sich nur durch den Verzehr von Menschenfleisch vorübergehend stillen lässt. Sollte sich Silbers Auserwählter hingegen für eine andere Frau entscheiden und diese heiraten, droht der nach wie vor verliebten Meerjungfrau beim Sonnenaufgang des ersten Morgens nach der Hochzeit, dass sie zu Meeresschaum zerfällt. Spätestens mit diesem mythologischen Unterbau verweist die Regisseurin explizit auf Hans Christian Andersens bekannte Märchengeschichte Die kleine Meerjungfrau, die Smoczynska weitestgehend vorlagengetreu mit dem Handlungsgerüst ihres Films verflechtet.
Stand das tragische Ende in Andersens Märchen wiederum für einen optimistischen Neubeginn, so bleibt die Tragik in The Lure bis ganz zum Schluss fester Bestandteil des Erzähltons. Nach Passagen, in denen pessimistische Klagegesänge, bizarrer Body-Horror und blutige Einschübe regieren, findet Smoczynska zu einem von wummernden Bässen begleiten Schluss, in dem sie das zentrale Dilemma, als Außenseiter an der Menschheit zu scheitern, noch einmal eindringlich auf einen finalen Höhepunkt bringt.