Das allgemeine Feedback zu Der unsichtbare Gast war seit seiner internationalen Premiere auf dem Fantasy Filmfest enorm euphorisch. Schnell wurde der Vergleich zu Hitchcock (Der Fremde im Zug) und De Palma (Dressed to Kill) laut herausposaunt, wobei das an einer ganz entscheidenden Tatsache direkt zum Scheitern verurteilt ist: Weder Hitchcock noch (logischerweise) dessen akribischer Jünger De Palma haben jemals einen Film gedreht, dessen Plot auch nur eine grobe Nähe zu diesem hier hätte. Wann immer ein Thriller etwas smarter und ambitionierter daherkommt als die alte Geschichte vom verdächtigen Gärtner muss das wohl so sein, aber die ganzen Schlaumeier könnten das doch wenigstens mal mit einem einfachen Beispiel direkt belegen. Tatsächlich gibt es eher Parallelen zu Die üblichen Verdächtigen oder vielleicht noch Zeugin der Anklage, was ja auch nicht die schlechteste Homebase darstellt. Es soll auch gar nicht die Endwertung in irgendeiner Form vorwegnehmen oder Einfluss auf das Fazit haben (was kann schließlich der Film für diesen Unfug von außen?), aber es darf ruhig mal erwähnt werden.
Und nun ohne unreflektierte Umwege direkt zu Der unsichtbare Gast…oder doch nicht. Denn wenn schon speziell Hitch als „Vorbild“ herhalten muss, dann könnte man doch direkt auf den ganz großen, wichtigen Unterschied eingehen: Bei Hitchcock – und grundsätzlich bei eigentlich jedem Thriller oder Genre-Film – wird meistens mit alltagsfremden und somit immer leicht bis schwer konstruierten Situationen hantiert. Mal mehr, mal weniger und selbst wenn es in der Theorie; aus dem einen oder sogar jedem Blickwinkel völlig realitätsfern aussehen mag, wichtig war und ist immer, wie wirkt das in der Praxis. Eines von Hitchcock’s ganz großen Talenten war es, sich auch (und sogar meistens) fremde Ideen so zu eigen zu machen, egal wie absurd sie klingen mochten, das sie oft in dem Kontext ganz schlüssig, plausibel und effektiv funktionierten. Quasi der perfekte Gebrauchtwagenhändler, der allein durch seine Leistung eine manchmal schon leicht angegriffene, aber an sich hochwertige Karosserie so grandios vermarkten konnte, dass man höchstens viel zu spät nur auf die Idee kommen konnte, charmant über’s Ohr gehauen zu sein.
Genau das gelingt dem zweifellos sehr talentierten Regisseur & Autor Oriol Paulo wie schon bei seinem ähnlich interessanten The Body erneut nicht (gänzlich), obwohl er manchmal nicht nur mit den Fingerspitzen dran, sondern das ganze Ding schon in der geballten Faust zu haben scheint. Dass die angeblich nun grundehrliche Karten-auf-den-Tisch-Geschichte vom offensichtlichen mit allen schmutzigen Abwassern gewaschenen Lügenbaron und Hauptberufs-Arschloch Adrián (Mario Casas, El Bar – Frühstück mit Leiche) kaum Substanz besitzt, ist keinesfalls dem Script anzukreiden, ganz im Gegenteil. Natürlich sollte die Glaubwürdigkeit der hier präsentierten Versionen durchgehend hinterfragt werden, was der Film eine Weile praktisch als Meta-Stilmittel nutzen kann. Überkonstruiert? Blödsinn? Erzähl das deiner Großmutter? Klar, volle Kanne, aber es hat diesen Flow, der dich stetig vorantreibt und motiviert, wie das Ganze weiter- und vor allem ausgeht. In dem Bewusstsein, das eh das Meiste erstunken und erlogen ist, nur gewisse Eckpfeiler stimmen mögen, solange funktioniert das großmäulig-brillante Twist-Theater, bis es eben als solches leider unter dem eigenen Anspruch (zwangsläufig) in die Knie geht.
Bis zu dem Punkt, als Lug und Trug, Schein und Sein sich nur auf Eins-gegen-Eins-Hören-Sagen-Ebene abspielt ist das auch schon teilweise zu viel des Guten, aber immer noch theoretisch im Soll; hat die Ausfahrt nach Clever-Hausen nicht verpasst; nimmt sie eventuell ganz spektakulär mit quietschenden Reifen unter großem Beifall und das war wohl auch exakt der Plan. Auf dem Papier mag das wahnsinnig verwinkelt und überlegt gestrahlt haben, in der Praxis spätestens ab dem bewussten Auflösen seiner indirekten Bedeutungs- und Wahrnehmungsebene leider knüppelhart überfrachtet- und konstruiert; prügelt mit einer Mischung aus guten Vorsätzen und absurden Entwicklungen auf das arme Opfer Zuschauer ein, das sich eigentlich schon mit einem (dafür grob abzukaufenden) Bruchteils des ganzen Plot-Hütchenspiels zufrieden geben würde, besonders wenn so ansehnlich vorgetragen. Da haben die Spanier nach wie vor die Nase aktuell weit vorn im europäischen Vergleich, dort schlummert irre viel Potenzial, seit Jahren schon. Der unsichtbare Gast ist gut gemeinter und effektiv vorgetragener Suspense mit dem Augenmerk auf großen Vorbildern, der deren Raffinesse deshalb vermissen lässt, da ihm die gesunde und notwendige Rest-Bodenhaftung unter den Füßen wegtwistet.