„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, so hieß es einst in Goethe’s Faust. Und obwohl Robert Louis Stevenson mit seiner knapp 80 Jahre später veröffentlichten Novelle Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde die Thematik eigentlich gar nicht ernsthaft tangiert, es könnte genauso gut ein Zitat aus dieser Geschichte sein. Eine Geschichte, die zum Kulturgut zeitgenössischer Horrorliteratur wurde, auch da sie auf erstaunliche Art und Weise die Grundlagen von Freud’s revolutionären Psychoanalyse kurz vor deren wissenschaftlichen Publikation im Prinzip vorwegnahm. Der sozialisierte, zivilisierte Mensch ist in erster Linie ein Produkt seiner Umgebung. Seiner Erziehung, seiner Bildung, seiner moralischen Integrität. Ob er vom rechten Wege abweicht, wird bei idealen, äußeren Bedingungen als Wesensschwäche ausgelegt. Als Fehler. Als ein Ausdruck des Bösen. Doch das ist an sich nicht richtig. Denn in jedem Menschen existieren verschiedenen, tendenziell immer vorhandene „Ausrichtungen“. Das soll jetzt kein ausschweifender Text über die Grundlagen der Psychoanalyse werden, dann sitzen wir noch morgen hier, und eigentlich kamen diese ja auch erst nach der literarischen Vorlage an die breite Öffentlichkeit, sie dürfen aber keinesfalls unerwähnt bleiben. Die markanten, verblüffenden Parallelen zu der hier adaptierten Novelle sind zu tiefgründig und sie heben auch Schlag 12 in London überraschend deutlich über den üblichen Output der damals noch aufstrebenden HAMMER-Studios hinaus. Auf eine sehr ungewöhnliche Funktionsebene.
Statt - wie bei HAMMER üblich - klassischem Gruselfilm beruhend auf prominenten Vorlagen, geht das Script von Wolf Mankowitz weniger populäre Wege, in dem er sich nicht darum schert, die Transformation von Gut in Böse als typisches Monster-Geschauer auszuschlachten. Ganz im Gegenteil, der psychologische wie gesellschaftliche Aspekt dominiert Schlag 12 in London komplett und könnte sogar dafür sorgen, dass er es bei Anhängern des schlichen Schockers für Zwischendurch mit erheblich Anpassungsschwierigkeiten zu tun bekommt. In den meisten Jekyll & Heyde Interpretationen verwandelt sich ein angesehener, gutsituierter Bürger in ein barbarisches, buckliges Ungetüm, um die Hässlichkeit und Widerwärtigkeit besonders hervorzukehren. Hier ist es exakt konträr. Dr. Jekyll (Paul Massie, Die Nacht ist mein Feind), auf beruflicher Ebene verstoßen. Von seiner Frau offen betrogen und das auch noch mit seinem angeblichen besten Freund (Christopher Lee, Der Hund von Baskerville), der ihn monetär melkt bis zum Anschlag. Ein belächelter Spinner, der durch seinen Zaubertrank jedwede Moral ablegt und sich in was verwandelt? Eine locker zwanzig Jahre jüngere, dynamischere, schlagfertigere und charmantere Reinkarnation, die selbst sein untreues Weib und deren Lover nicht wiedererkennen, als er sich unter dem Namen Mr. Hyde bei ihnen vorstellt.
Statt als mordlüsterner Freak durch die Gassen Londons zu geistern, vergnügt sich Mr. Hyde als schnell etabliertes Mitglied in der moralisch verrohten, versnobten High Society. Genießt Huren, Glücksspiel und Alkohol, während sein braver Schöpfer in den immer seltener werdenden Ruhepausen langsam erkennt, dass die böse Seite ihn langsam aber sicher komplett vereinnahmt. Das Absurde dabei: Lange fällt das gar nicht auf. Das verletzliche Mauerblümchen Dr. Jekyll ist nur über seinen anzuzapfenden Kontostand von Interesse, der Lebemann Mr. Hyde passt perfekt in ein Umfeld, welches das trotzdem noch brutale Monster erst viel zu spät bis gar nicht als solches identifiziert. Erst in der Stunde des Todes, denn auch der skrupellose Hyde ist ein stückweit noch der gehörnte, aber nie zum Racheakt fähiger Jekyll. Eine Hand wäscht die andere. Aber beide ergeben erst ein Ganzes.
Schlag 12 in London hegt die meiste Zeit überhaupt kein Interesse daran, über simple Horror-Effekte zu überzeugen und konzentriert sich vehement auf den psychologischen wie zwischenmenschlichen Zwiespalt. Bald mehr ein schizophrenen Beziehungsdrama, welches am Ende sogar clever Mindfuck-Züge annimmt. Ohne die (für den Zuschauer) deutliche, optische Veränderung (wie die entsprechende Reaktion des Umfeldes) könnte man sogar annehmen, dass Dr. Jekyll’s Wunderdroge nur ein Placebo ist. Um sich endlich mal Luft zu machen. All dieser kanalisierten Wut weit ab von der guten, zivilisierten Kinderstube ihren längt überfälligen Amoklauf zu gönnen. Das spielt da natürlich auch so mit rein, was diesen Film wesentlich über sein vielleicht schlichtes Erscheinungsbild abhebt. Regisseur Terence Fisher (Dracula) liefert abermals ganze Arbeit ab, in dem er nicht nur mit einem – für das Budget – erstaunlich prunkvollem Setdesign daherkommt, sondern auch sehr clevere Spannungs-Sequenzen dirigiert. Während im Salon spektakulär-heitere Tanz-Revues aufgeführt werden, wird im Hinterzimmer giftig gemordet. Schein und Sein, so auch noch mal im inszenatorisch perfekt auf den Punkt gebracht.