In den letzten Jahren haben im Weltkino weniger Regisseure mehr Preise, mehr nickende Köpfe und mehr schüttelnde Köpfe eingeheimst als der philippinische Filmemacher Lav Diaz (Florentina Hubaldo CTE). Mit Norte - Das Ende der Geschichte, kommt sein wohl bekanntester, zumindest aber sein verbreitetster Film in die deutschen Filmregale. Norte - Das Ende der Geschichte ist der einzige Film, der in Deutschland im Kino lief; lange Zeit war der Film nur als Import erhältlich und mit einer Laufzeit von exakt vier Stunden, ist dies für Diaz’ Verhältnisse ein überaus bekömmlicher Film geworden. Und einer, der sich in vielerlei Hinsicht vom sonstigen Werk abhebt. Es lohnt sich, die Diaz’sche Filmsprache unter die Lupe zu nehmen.
Zu Beginn sitzen drei Menschen; einer davon heißt Fabian und wird uns über weite Strecken der Handlung begleiten. Das Gespann diskutiert, Fabian fordert den Tod der Wahrheit, den Tod der Bedeutung. Er will eine Anti-Alles-Gesellschaft, eine Welt ohne Werte und damit auch ohne Zwänge. Der Instinkt soll über Intellekt entscheiden und Moral zum höchsten Gut machen. Sie diskutieren und besprechen hohe philosophische Güter. Diaz zeigt sich hiermit nicht nur ungewöhnlich gesprächig (es ist quasi wie (s)eine Diner-Szene aus einem Tarantino-Film), er offenbart auch schon früh einen tiefen Widerspruch. Philosophische Gespräche bei gleichzeitiger Verachtung von Philosophen, die Fabian allesamt als Schwätzer abtut. Auch besonders für Diaz: Norte - Das Ende der Geschichte startet als ein Film in Farbe, ein Film, in denen die Figuren lachen und leben - zumindest zu Beginn.
Plötzlicher Schnitt, eine Frau liegt mit Wunde auf dem Kopfsteinpflaster. Fabian sieht das und sieht sich bestätigt, eine Radikalisierung steht bevor. Die Freunde um Fabian herum sind junge Erwachsene in der Blüte ihrer Zeit. Sie jauchzen, haben (noch) Träume, stehen an einer Steilküste und reden über Prinzipien, Idealismen einer Zukunft. Sie sind brillant und kommen nicht zum Zug. Bereits im Booklet der DVD kündigt der Regisseur selbst an, dass der Film als ein Kampf gegen die heimelige Monarchie der Regierung in den Philippinen ist. Dazu holt er zum Rundumschlag aus. Seine Figuren sind quasi ein Sprachrohr des Regisseurs und sie beschweren sich über die Täter (Marcos), über die, die zu faul sind, etwas zu ändern und über die, die den dortigen Status Quo einfach akzeptieren.
Aber auch wenn Diaz hier überraschend hoffnungsvolle erste zwanzig Minuten zeigt, lassen die dunklen Untertöne (die später omnipräsent werden) nicht lange auf sich warten. Eine Verletzung am Bein, das Auflösen der Familie, das Haustier muss verkauft werden und Papa kann nicht mit am Tisch essen. Weil politische Instanzen nicht im Film vorkommen, zeigt Diaz eine Gesellschaft, die losgelöst von einer angemessenen Legislative, Judikative und Exekutive funktionieren muss. Ein Land, der vielen kleinen Monarchien. Im Film ist es die Dame Magda, die viel mehr Geld hat, als alle anderen. Erkenntlich am Körpergewicht und dem Schmuck, den sie trägt. Fabian leiht sich von ihr Geld (das macht hier jeder so), sie hat bereits seine Bankkarte, sie hat quasi Macht über seine Taten. Sie entscheidet wie viel Freiraum sie ihm geben kann, oder ob sie ihn kleinhalten möchte.
Diaz nutzt Dame Magda in zwei gespiegelten Szenen, um alles über sein Heimatland auszusagen. In der ersten Szene sitzen Dame Magda und eine Frau im Unterschichten-Haus der letzteren. Der Tisch ist aus Holz und viel zu hoch, um daran bequem zu sitzen. Eine Schale mit ein bisschen Obst, das nur für Dame Magda ist, steht drauf. Beide Frauen wedeln immer wieder Fliegen weg, Dame Magda gelangweilt, die andere Frau beschämt. In der zweiten Szene sitzen die beiden Frau bei Dame Magda zuhause am Tisch. Es ist ein Glastisch mit einer Decke, mit viel mehr Obst und ganz ohne Fliegen. Und dennoch isst nur Dame Magda und dennoch saugt sie die Frau gnadenlos aus - und wähnt sich dabei im Recht.
Wie viel Prügel kann ein Mensch ertragen, wie weit kann man ihn in die Enge zwängen, bis er ausreißt und zu seinen animalischen Trieben zurückkehrt? Die Philippinen sind ein Land, so erzählt Diaz hier, das seine Jugend auf einen Pfad der Selbstzerstörung bringt und damit seine Vision, seine Zukunft und seine Ehre verliert. Ein Land, in dem Machiavelli und Kapitalismus bei einer Handvoll Leuten regieren, die damit weite Teile der Rest-Bevölkerung mühelos im Schach halten können. So lange, bis die Unterschicht rebelliert. Fabian ist der einzige der dies tut. Seine „Revolution“ wie er es wohl nennen würde, verschlingt wie immer auch Unschuldige. Unschuldige, die mit ihrem Leben bezahlen oder ein Leben lang im Gefängnis landen - aber was, wenn man ehrlich ist, ist da schon der Unterschied.
„Wenn ich weg bin, pass auf dich auf. Du bist ein guter Mensch. Es ist schwer, gut zu sein. Ich hab viele umgebracht. Ich bin kein Mensch mehr.“
Bezeichnend ist, wie Diaz seine Bildsprache hier einsetzt. In der ersten Einstellung ist wenig Bewegung, in der zweiten ein Schwenk, in der dritten gar keine Bewegung, in der vierten ein Schwenk. Die meisten Filme nutzen heutzutage Bewegungslosigkeit und Stille als herausstechendes Stilmittel; Diaz nutzt Bewegung und Ton als Auffälligkeit. Seine kinematische Welt ist anders codiert als das Mainstream-Kino der Generation der geringen Aufmerksamkeitsspanne. Aber in ihrer Wirkung sind seine Filme fundierter, ehrlicher und natürlicher. Zudem nutzt Diaz in diesem Film - und das gleicht schon beinahe einer Sensation - eine Drohne für ein paar Aufnahmen. Jedoch nicht zwecks Übersicht, sondern als das Subjektivieren einer unsichtbaren Macht. Einer Person vielleicht, einer höheren Instanz wahrscheinlich. Die Drohne wirrt durch den Raum, über die Dächer und Felder, durch den Flur im Gefängnis. Das Ziel ist unbekannt und nicht ersichtlich, die Reise wild und unstet.