“One moment we were fine, then everything turned to shit.”
Ich möchte schon am Anfang erwähnen, dass ich für diese Kritik meine Objektivität aus dem Fenster schmeißen werde, damit ich eine möglichst intime Beurteilung von “Mustang” abliefern kann. Mein Großvater kam Ende der 60er nach Deutschland. Nachdem er sich eine stabile Existenzgrundlage erarbeitet hatte, holte er meine Großmutter, meinen Vater, seine zwei Brüder und seine Schwester zu sich. Fort vom kleinen, fünf Autostunden von Istanbul entfernt liegenden Dorf südlich des Marmarameers, ins Industriegebiet um Stuttgart, das damals, wie der Rest Deutschlands, das Fundament seiner heutigen multikulturulellen Existenz schaffte. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen und obwohl ich einen deutschen Pass habe und mich selbst in erster Linie als ‘Deutscher’ identifiziere, kann ich meine Wurzeln keineswegs ignorieren. Vielleicht lag es daran, dass ich mit türkischem Essen, türkischer Musik, türkischen Filmen und der obligatorischen drei Tage langen Autofahrt in die Türkei zu “Oma & Opa” in jedem Sommer durch Österreich, Kroatien bis Griechenland (manchmal fuhren wir stattdessen durch Bulgarien) aufwuchs, dass meine Liebe für die türkische Kultur und die Menschen dort, trotz meiner deutschen Identität, tief in mir dennoch lebt und auch auf ewig weiterleben wird (ob das Nostlagie ist, sei mal dahingestellt), sodass "Mustang" durch die Landschaftspanoramen, die eher schlecht als recht errichteten Asphaltstraßen, die shitty Minibusse und durch das lasche, alles umgebende Grün so ein bisschen schon mein Herz eroberte und mir meine Voreingenommenheit schon in den ersten paar Minuten des Films vor Augen führte. Dennoch fehlt mir einerseits jedoch das Gefühl der absoluten Zugehörigkeit, wenn ich von vielen Deutschen als Türke und von meinen Verwandten in der Türkei (spaßeshalber) als Deutscher identifiziert werde, andererseits sehe ich meine Binationalität als Segen an. Den Kultur-Mix aus deutsch und türkisch, der mich immer begleitete existierte vor meiner Generation (in meiner Familie) nicht und dass ich einer der einer der ersten bin, die diese neue und einzigartige Mischung aus Kunst und Gesellschaft erleben durfte, erfüllt mich mit Stolz.
Wenn ihr meine Eltern allerdings fragen würdet, würden sie wohl kaum hinter mir stehen, was meine offene und willkommende Haltung gegenüber der Kultur und Sprache des Landes angeht, das meinen Großvater vor 40 Jahren aufnahm und ergo mir ein Leben ermöglichte, das andererseits unmöglich gewesen wäre. Meine Eltern sind gute Menschen; wenn es um Offenheit und Toleranz geht, passiert es nicht selten, dass ich mich echt schäme. Je liberaler ich wurde, umso fundamentalistischer wurden sie. Ich liebe meine Eltern, aber es ist mittlerweile zu dem Punkt gekommen, dass ich mit ihnen nicht mehr über Politik und/oder Religion reden kann, da es immer zum Streit kommt. Als Teil der ersten Generation meiner Familie, die außerhalb der Türkei aufwuchs, sind türkische Normen und Werte, wie Respekt und ‘Ehre’ tief in meiner Erziehung verankert. Tugenden wie Respekt vor dem Älteren, bedingungslose Gastfreundschaft und Dankbarkeit spielen in der türkischen Gesellschaft riesige Hauptrollen und ich bin froh, dass ich diese Sitten mit ihrer gigantischen Gewichtung im Leben übernehmen konnte.
Doch es mangelte dem türkischen Mikrokosmos, indem meine Eltern, ich teilweise und - und hiermit kommen wir endlich full-cirlce - die fünf Schwestern in “Mustang” aufwuchsen, schon immer an Toleranz und Offenheit. Und obwohl ich persönlich, oder sogar meine Verwandten in der Türkei, nie etwas wie einen “Ehrenmord” oder eine “Zwangsheirat” aus erster Hand erlebt haben und nur aus den Nachrichten kennen, sind diese Fälle leider keineswegs selten, gerade in den ländlicheren Regionen und im östlichen und weitaus ärmeren Teil der Türkei. Es ist kein Zufall, dass der Kulturpott Istanbul im Film zum liberalen Paradies emporgehoben wird, zu dem die kleinste der Schwestern, Lale, immer schwört zu verschwinden und diesen erdrosselnden Fundamentalismus hinter sich zu lassen, als ihre älteren Schwestern, eine nach der anderen an einen Unbekannten verheiratet werden.
Die fünf Schwestern sind allesamt (die eine mehr als die andere) extrovertierte junge Mädchen/Frauen, die das Leben lieben, durch die lasch-grüne Küstenlandschaft am Schwarzen Meer stapfen und nach dem letzten Schultag vor den Sommerferien mit Freunden spontan ins Meer springen. Nur (Doga Zeynep Doguslu), Ece (Elit Iscan), Selma (Tugba Sunguroglu), Sonay (Ilayda Akdogan) und Lale (Güneş Şensoy) werden dabei gesehen, wie sie im Meer planschen, nass werden und Spaß haben, als sie jedoch nach Hause kommen, erwartet ihre Großmutter sie bereits. Es liegt nicht daran, dass sie im Wasser auf den Schultern zweier männlichen Mitschüler saßen, dass sie nun unter Hausarrest gestellt werden, sondern daran, dass sie dabei gesehen wurden. Der Meinungen anderer Menschen im Dorf wird große Bedeutung zugemutet und selbst ein kurzer Anblick der Freude verleitet die Nachbarn die Jungfräulichkeit der Mädchen in Frage zu stellen. Wer so mit Jungen in der Öffentlichkeit unbehagen ist und es wagt für einen Moment frei und jung und Mensch zu sein, ist schließlich sicherlich ein Flittchen. Das mag lächerlich klingen, doch war diese Denkweise nicht nur üblich, sie ist es selbst heute noch in Kreisen in denen die Zwangsehe schon lange ausradiert wurde. “Benimm dich, sonst denken andere schlecht über dich.” Keuschheit und Konservatismus werden immer noch groß geschrieben; unehelicher und/oder homosexueller Sex ist verpönt (wenn auch nicht illegal).
Die Mädchen werden unter Hausarrest gestellt und lernen zu kochen und zu nähen. Ihre Besitztümer, die sie “verderben” könnten (Computer, kurze Kleidung, Musik, Bücher) werden ihnen genommen. Das Haus wird abgeschlossen und später sogar verbarrikadiert, nachdem sie es schaffen in einem der herzerwärmenden Höhepunkte des Filmes sich aus dem Haus zu schleichen um ein Fußballspiel zu besuchen, das aufgrund vergangener Fanausschreitungen nur für weibliche Zuschauer zugänglich war. Doch entpuppt sich dieser Akt der Rebellion als ihre scheinbar Letzte. Die Mädchen werden in “kackbraune Kleider” gesteckt, wie die leidenschaftliche und tomboyische Lale sie so schön nennt und von der Ältesten beginnend an Unbekannte verheiratet. Über den Onkel Erol, der sie gemeinsam mit ihrer Großmutter nachdem Tod ihrer Eltern großzog, wird im Laufe des Films ein Detail enthüllt, das ihn endgültig dämonisiert, sodass seine Vermenschlichung für den Zuschauer kaum möglich ist. Angesichts der Möglichkeit, dass sich Teile des türkischen Publikums andererseits mit ihm identifiziert hätten, ist die starke Verteufelung Erols verständlich, wenn auch recht ungeschickt gelöst.
Die Schwestern sind Kämpferinnen, die selbst in ihrer eingesperrten Existenz Trost und Freude untereinander finden, wie wenn sie einen Haufen Matratzen als imaginäres Schwimmbecken nutzen oder die kleine Lale mit dem mit Zeitungspapier ausgestopften BH ihrer älteren Schwester durchs Haus rennt. Natürlich kommt die Großmutter und versucht ihr Einhalt zu gebieten, da ein Mädchen sich so “nicht zu benehmen habe”. Lale antwortet passend: “Lass mich doch mal atmen.” Wie Regisseurin und Drehbuchautorin Deniz Gamze Ergüven es schafft in ihrem Debut die Beziehung dieser fünf Schwestern einzufangen ist nur umso erstaunlicher, wenn man beachtet, dass keine der Mädchen zuvor schauspielerische Erfahrungen hatte. Gefilmt ist “Mustang” zumeist mit einer einfachen Handkamera; nur selten unterbrechen Schnitte das Bild, sodass für eine unglaubliche Authentizität gesorgt wird. Die Kamera wirkt wie eine unsichtbare, sechste Schwester, die den Mädchen überall hin folgt und sie in ihrem Alltag beobachtet. Im Laufe des Films schickt “Mustang” den Zuschauer durch alle Emotionen. Verwirrung, Wut, Schock, Trauer und Freude, ehe der Film an einer sehr melancholischen Note endet.