Gesehen beim 30. Jüdischen Filmfestival Berlin Brandenburg
Der Fall Pierre Goldman schlug in den 70er Jahren in Frankreich hohe Wellen. Dabei ging es aber nicht allein um die Taten, die ihm zur Last gelegt wurden, sondern vielmehr um die Art wie Goldman polarisierte und die Öffentlichkeit instrumentalisierte, um zunächst überhaupt das Berufungsverfahren zu erhalten und um den Justizskandal, der sich nach der Verhandlung offenbarte, nach dem Goldman Justiz und Polizei Antisemitismus und Rassismus unterstellt. Cédric Kahn (Die Familienfeier) widmet sich in seinem Film The Goldman Case diesem Berufungsprozess und liefert damit ein erstklassiges Justizdrama ab, das sich hinter so großen Vorgängern wie Zeugin der Anklage oder Die zwölf Geschworenen nicht zu verstecken braucht, auch wenn der Film nicht ganz diese Intensität und Spannung erreicht. Dennoch ist The Goldman Case ein sehr intensives Erlebnis, weil im Gegensatz zu so manch anderen Gerichtsfilmen die Kamera stets nah am Geschehen ist und der Film sich fast ausschließlich auf den Gerichtsprozess selbst fokussiert. Mit Ausnahme der Eingangsszene, in der sich zwei von Goldmans Anwälten auf den Prozess vorbereiten, spielt der Film nur im Gerichtssaal. Dadurch erzeugt Kahn eine beklemmende Enge und Authentizität, die noch dadurch untermauert wird, dass er bewusst auf Musik verzichtete.
Zudem wird das Tempo der Dialoge hochgehalten. Es ist ein wahres Feuerwerk, das auf die Zuschauer einprasselt, in dem gefühlt jeder gegen jeden agiert. Verteidigung gegen Staatsanwaltschaft. Staatsanwaltschaft gegen Angeklagten. Angeklagter gegen Gericht. Gericht gegen Verteidigung. Verteidigung gegen Zeugen. Zeugen gegen Angeklagten und sogar der Angeklagte gegen seine eigene Verteidigung. Hieraus zieht der Film jede Menge Spannung und es führt dazu, dass man nicht unmittelbar die Seite des Angeklagten einnimmt, aber den Fall dennoch nicht objektiv betrachten kann, weil man sich genauso schnell in den Zeugenaussagen und Argumentationsketten der jeweiligen Seite verliert. Goldman (Arieh Worthalter, Bastille Day) selbst trägt einen entscheidenden Anteil dazu bei, denn er ist keinesfalls ein Sympathieträger, sondern wirkt in seiner Selbstdarstellung recht arrogant und nutzt den Gerichtssaal als Showbühne zur Selbstinszenierung. Arieh Worthalter gelingt eine überzeugende Darstellung mit viel Ausdruckskraft, die ihm den César als besten Hauptdarsteller einbrachte. Ihm schafft es die Komplexität und Ambivalenz des so widersprüchlichen Charakters einzufangen.
Goldman war ein Lebemann, der zwar vor Gericht seine Prinzipien verteidigt, die, wie sich recht schnell durch die Aufarbeitung seiner Vergangenheit zeigt, eigentlich nicht vorhanden sind. Er entzieht sich dem Wehrdienst, um sich in Südamerika einer bewaffneten Guerilla-Truppe anzuschließen, er sieht sich als kommunistischer Widerstandskämpfer, genießt aber einen luxuriösen Lebensstil, den er zuletzt durch Raubüberfälle finanziert. Von großer Bedeutung ist für Goldman auch, dass er nicht auf seine Herkunft reduziert wird und der Kampf gegen das allgemeine Stigma der „Juden als Opfer“. Doch beklagt er den staatlichen und institutionellen Antisemitismus und Rassismus, sobald es für seinen Kampf gegen das System relevant erscheint und zieht sich dabei in die Opferrolle zurück. Worthalter schafft es diese Vielschichtigkeit des Charakters, die Person des Pierre Goldman abzubilden. Seine eigenen Anwälte bringt Goldman mit seiner Art und dem ständigen Drang sich selbst verteidigen zu müssen, an den Rand der Verzweiflung. Es verwundert, dass sie nicht das Handtuch werfen, sondern professionell genug sind, dies für ihr eigenes Agieren im Prozess geschickt zu nutzen. Goldman als Mandant ist der Feind seiner eigenen Anwälte. Vor allem Maître Kiejman (Arthur Harari, Oscargewinner als Co-Drehbuchautor für Anatomie eines Falls) zeigt sich als eigentlicher Gegenspieler zu Goldman, obwohl sie eigentlich das gleiche Ziel verfolgen. Genau diese Prämisse macht The Goldman Case zu einem interessanten Film.
Das Psychospiel zwischen dem Angeklagten und seinen Verteidigern, aber genauso zwischen den anderen Beteiligten am Prozess sorgt für eine aufgeheizte Stimmung im Gerichtssaal und steigert nicht nur die Dramatik für die Zuschauer im Kinosaal, sondern in der gleichen Intensität auch für das Publikum Gericht. Hier muss man tatsächlich mal Beteiligte am Film hervorheben, die zu oft übersehen werden, ohne die in Filmen jedoch etwas fehlen würde. Die Komparsen haben in The Goldman Case eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, die für die Wirkung des Films eine große Rolle spielt, denn ihre Emotionen und Reaktionen sind nicht gestellt, sondern echt. Als einzige Anweisung erhielten sie für Drehbeginn die Information, in welchem Lager sie stehen. Fortan verfolgten sie den chronologisch geführten und mit drei Kameras gleichzeitig gefilmten Szenen des Films, wie in einer echten Verhandlung. Dabei kochten die Emotionen hoch und an der ein oder anderen Stelle erkennt man, wie sehr es sie selbst mitgenommen hat und wie sehr sie in ihrer Rolle aufgegangen sind. Für die Gesamtwirkung des Films ist dieser Umstand jedenfalls Gold wert. Positiv hervorzuheben ist zudem die Drehbuchautorin Nathalie Hertzberg (Arrêtez-moi là), die in mühevoller Kleinarbeit aus alten Zeitungsartikeln den Fall rekonstruierte und daraus das Drehbuch entwickelte, wobei sie dank gewissenhafter Journalisten, die zum Teil Goldmans Darstellungen und die Plädoyers wörtlich wiedergaben, hier sogar auf den originalen Wortlaut zurückgreifen konnte. Mehr Authentizität kann man fast schon nicht verlangen.