Das 2006 veröffentlichte Buch Gomorrha – Reise in das Herz der Camorra von Roberto Saviano wurde zu einem weltweiten Bestseller und sorgte für einen internationalen Aufschrei, lieferte der Autor doch furchtlos und offen einen Einblick in die Methoden der modernen Mafia. Nannte Namen, konkrete Fälle und Zusammenhänge, womit er gleichwohl die nach wie vor korrupte, italienische Politik unverblümt bloßstellte und noch viel „schlimmer“ das Gesetz der Omerta brach. Dem besonders in Sizilien dogmatisch einzuhaltenden Schweigekodex über das Treiben der Camorra, was ein automatisches Todesurteil zur Folge hat. Seit Veröffentlichung und speziell des großen Aufsehens um das Buch lebt Saviano das Leben eines Geistes. Befindet sich im ständigen, strengen Polizeischutz, wechselt stetig seinen geheimen Aufenthaltsort und ist immer noch ein Primär-Ziel der Mafia.
Zwei Jahre später folgte die gleichnamige Verfilmung, in der Regisseur Matteo Garrone (Dogman) den sachlichen Inhalt des Buches in einen filmisch-fiktiven Plot umwandelt. Wobei die Fiktion sich rein auf die Figuren und diverse Abläufe im Detail beschränkt, alles basiert sehr eng auf den Schilderungen Savianos und somit auf wahren Begebenheiten und Personen, die nur nicht exakt als solche dargestellt werden. Das betont schmucklose und bewusst beinah dokumentarisch anmutende Werk liefert einen Einblick in eine Subkultur. Einen von der Außenwelt nahezu abgeschotteten Mikrokosmos der fast als verwahrlost zu bezeichneten Slums von Neapel und Umgebung, in denen sich seit hundert Jahren grundsätzlich kaum etwas geändert hat. Nach wie vor befindet sich alles im Würgegriff der Camorra, die Umstände haben sich nur notwendig angepasst. Was in einer noch differenzierterer Klassifizierung mündet. Es gibt nicht nur Arm und Reich, es ist eine Drei- bis Fünfklassengesellschaft. Von bettelarmen Fetzen, über Adidas-Imitat bis hin zu Armani. Zwischen Sonnen- und Solariumbräune, bis hin zum puren Straßendreck. Anhand vieler (meist) unabhängig voneinander dargestellten Beispielen ruft der Film erschreckend realistisch ins Bewusstsein, wie selbst in unserer modernen Zeit noch solche barbarischen und unmenschlichen Methoden allgegenwärtig sein können. Und als völlig selbstverständlich gelten, da hier ganz eigene Gesetze traditionell herrschen.
Auf manipulative Elemente in der Inszenierung wird konsequent verzichtet, was Gomorrha – Reise in das Herz der Camorra nur noch authentischer, nüchterner macht und trotzdem mit so einer emotionalen Wucht versorgt, da einem die geschilderten Einzelschicksale umso näher gehen. Sie sind greifbar, glaubhaft und von einer grausamen Ausweglosigkeit wie Ungerechtigkeit gekennzeichnet. Nahezu alle Facetten der von der Mafia dominierten Existenzen werden beleuchtet und in Episoden zusammengeführt. Von Kinder, die ihre einzige Perspektive in der Kriminalität sehen. Von kleinen Gaunern, die sich in ihrem Größenwahn mit den falschen Leuten anlegen. Von angeblichen Häuptlingen, die selbst nur die Drecksarbeit erledigen, während das echte Geld längst nicht mehr mit Drogen und Rotlicht verdient wird. Die wahren Bosse arbeiten eng zusammen mit Politik und Wirtschaft, nutzen ihre Provinzen im wahrsten Sinne des Wortes als Abfalleimer und sind klug genug, sich im halbseidenen, stets schnell abzustoßenden Rahmen zu bewegen, da viel zu eng und kompliziert vernetzt, um die Verursacher direkt zur Verantwortung zu ziehen. Richtige Entscheidungsträger sieht man in Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra eigentlich nur in einer Szene (die erste Deponie-Szene), ansonsten erlebt man nur Handlanger bei der Arbeit, wobei deren Status von Lokalpolitiker bis hin zu Botenjunge alles beinhaltet.
In diesem Rahmen wird alles allerdings mehr als eindringlich auf den Tisch gelegt. Ein Teufelskreis skizziert. Wer sich hier mit ehrlicher Arbeit herumschlagen will, kann gleich sein eigenes Grab schaufeln. Selbst nur über die Runden kommen zu wollen bedeutet automatisch, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Sogar, wenn es nur indirekt geschieht, aber das Risiko ist allgegenwärtig, da logisch. Kein Geld lässt sich hier ohne den Segen der Cosa Nostra verdienen und selbst die, die ihre Pflicht getreu erfüllt haben, müssen um Almosen betteln. Denn es herrscht Krieg – dieser Begriff wird mehr als einmal direkt verwendet. Ein nicht anonymer, aber totgeschwiegener, hilflos stillschweigend tolerierter Krieg, der durch das Buch eine Stimme und durch diesen wuchtigen, eindringlichen und sehr wichtigen Film auch endlich ein Gesicht bekam. Ein gnadenloser, erschütternd ehrlicher und ohne Ironie brutal zynischer Schichtsalat aus dem Herz des organisierten Verbrechens, das trotz seiner längst stattgefundenen Demaskierung nach wie vor pumpt, als wären wir noch im 19. Jahrhundert.