Kritik
„Es gibt zwischen Schwarz und Weiß 254 Graustufen.“
Ganz grundlegend muss man eine Dokumentation mit der Frage angehen, wie ihr Absichten gestaffelt waren: Steht hier ein informativer Charakter im Vordergrund, der – etwas didaktisch formuliert – ganz trocken und theoretisch Aufklärungsarbeit arbeiten soll, oder wagt sich der Regisseur der jeweiligen Dokumentation höchstselbst (psychisch wie physisch) in die tiefe Substanz seines Sujets vor; will er am eigenen Leibe erfahren, sondieren, selektieren und reflektieren, was er dem Zuschauer präsentiert, anstatt nur das Aufzuarbeiten, was bereits Menschen vor ihm herausgefunden haben? Hinter Marcel Wehns „Ein Hells Angel unter Brüdern“ lauert eine gewisse motivische Diskrepanz, ist der Dokumentarfilmer doch schon durchaus daran versucht, dem Zuschauer einen Einblick in den hermetisch abgeriegelten Hells-Angels-(Mikro-)Kosmos bereitzustellen, anstatt sich mit fremden Federn zu schmücken, es scheint ihm aber nicht vergönnt gewesen zu sein (aus welchen Gründen auch immer), den Mitgliedern des Motorradclub wirklich bohrende Fragen zu unterbreiten. Das lässt die ganze Angelegenheit in ihrer dokumentarischen Ausrichtung ein wenig schwammig verkommen.
Lutz Schelhorn hat sich bereit erklärt, Marcel Wehn in seinem Vorhaben zu unterstützen und sich mit Sicherheit auch Chancen dahingehend ausgerechnet, das medial geprägte Bild der Hells Angels ein wenig aufzupolieren. Schelhorn ist indes nicht nur ein „normales“ Mitglied unter Tausenden, sondern der Präsident des Stuttgarter Charters, dem ältesten Deutschlands. Wenn in den täglichen Nachrichten mal wieder von den Hells Angels gesprochen wird, dann werden diese vor allem mit schweren Delikte wie Waffenbesitz, Rauschgifthandel und Zuhälterei verknüpft. „Ein Hells Angel unter Brüdern“ hat sich auf die Agenda geschrieben, Licht in die mythenverhangene Männergemeinschaft zu bringen und aufzuzeigen, dass all die Verbrechen, die Kriminalität, die Gewalt, selbstverständlich nicht zum rockertypischen Prinzip des Clubs gehören: Schelhorn, der seit Jahrzehnten in Formation auf seinem motorisierten Ross über die teutonischen Straßen braust und die Kutte dabei mit Stolz trägt, bemüht wiederholt verklärende Ideale, um zu proklamieren, dass die Hells Angel eine freiheitssüchtige Ausformung der Rebellion darstellen.
Die Realität sieht aber etwas anders aus und wir bekommen bei den Hells Angel keinen Peter Fonda geboten, der mit repräsentativ wehenden Haaren verwegen die Route 66 runterprescht, sondern eine solidarische Organisation, die nicht nur mit einem Bein im delinquenten Sumpf steckt. „Ein Hells Angel unter Brüdern“ aber ist nie in der Verfassung dazu, das Clubdasein auf moralisch-ethische Werte zu durchleuchten, stattdessen setzt er Lutz Schelhorn vor die Kamera und lässt ihn oberflächlich darüber schwadronieren, dass es in jeder Rebe ja auch mal eine faule Traube vorhanden ist, die aber für ihre unrühmlichen Vergehen (hier ganz explizit erwähnt die Vergewaltigung einer Frau durch einen Hells Angel) nicht justiziabel geahndet werden sollen, sondern im clubinternen Zirkel bestraft. Man würde sich anhand solcher Aussagen wünschen, dass „Ein Hells Angel unter Brüdern“ auf diese rückständige Gepflogenheiten einer von der Außenwelt nahezu vollständig abgeschirmten Welt eingeht und nachhakt, warum sich die Moralparameter innerhalb der Clubs und der Gesellschaft denn (angeblich) unterscheiden? Da aber hatte Wehn nicht den Mut – oder schlichtweg von Beginn an keine Chance.