Der numerisch große Abräumer der Oscar-Verleihung 2003 wurde zwar das Musical Chicago (u.a. als Bester Film), der Sieger des Abends hieß jedoch Roman Polanski (Chinatown). Wahrscheinlich hatten niemand mehr damit gerechnet, dass der vor 26 Jahren aus den USA geflüchtete und dort bis heute mit einem gültigen Haftbefehl versehene Regisseur ausgerechnet von der meist risiko- und skandalscheuen Academy mit ihrem wichtigsten Einzelpreis bedacht werden würde. Entsprechend konnte er die Trophäe auch nicht entgegennehmen, eine Genugtuung dürfte es dennoch gewesen sein. Gerade für dieses, sein intimstes und persönlichstes Werk.
Es ist die wahre Geschichte des begnadeten Pianisten Wladyslaw Szpilman (Adrien Brody, King Kong) und doch zu einem nicht unerheblichen Teil auch Polanskis eigene. Als Sohn eines polnischen Juden in Paris geboren kehrte er 1937 mit seiner Familie zurück in die Heimat seines Vaters, um dem ansteigenden Antisemitismus in Frankreich zu entfliehen. Stattdessen erlebten sie dort nur zwei Jahre später den Einmarsch der deutschen Wehrmacht und den folgenden, schleichenden Genozid ihres Volkes am eigenen Leib. Nicht wie Szpilman in Warschau, sondern in Krakau, ansonsten gleichen sich die Erlebnisse von Polanski und seinem Protagonisten in vielen Details. Beide wurden wie Vieh in den von den Nazis geschaffenen Ghettos gepfercht, bevor die große Deportierung in die KZs begann. Beide mussten sie mitansehen, wie schon vorher um sie herum die Menschen litten, scheinbar willkürlich exekutiert wurden oder einfach nur sich selbst überlassen auf den Straßen verreckten. Und wie sie ihren Liebsten entrissen wurden, die den Tod in den Vernichtungslagern finden sollten. Wie Szpilman gelang auch Polanski die Flucht aus dem Ghetto, was ihm das Leben rettete. Somit trägt Der Pianist, obwohl sie die erschütternde Odyssee von Wladyslaw Szpilman dokumentiert, genügend autobiographische Züge von Roman Polanskis eigener Vergangenheit.
Unmissverständlich wird Der Pianist durch die Augen eines Mannes erzählt, der das unvorstellbare Grauen selbst erlebt hat. Ohne reißerisch oder pathetisch zu werden schildert Polanski das Leben im Ghetto in all seiner erschütternden Grausamkeit. Es wirkt manchmal fast beiläufig, wenn inmitten der überfüllten Gassen die Menschen einfach so sterben, sich niemand um sie kümmern kann oder will. Es ist zum Alltag geworden. Für die dort Gefangenen, aber nicht für den Zuschauer, den das Gezeigte unmöglich kalt lassen kann. Polanski spart nichts aus, insbesondere nicht die fassungslos stimmende Brutalität, mit der die Besatzer immer wieder ihre Machtposition und die – aus ihrer Sicht - Menschenunwürdigkeit des jüdischen Volkes demonstrieren. Selbst dem abgebrüht Publikum läuft es dabei eiskalt den Rücken runter. Dabei niemals in einen fehlgeleiteten Selbstzweck verfallend (negatives Gegenbeispiel: Der wahrscheinlich gut gemeinte und grässlich aus dem Ruder laufende Darfur – Der vergessene Krieg von Grobmotoriker Uwe Boll), einfach nur wahrhaftig und ungeschönt.
Über 6 Jahre begleiten wir dabei einen an die Grenzen gehenden Adrien Brody (wie Polanski für seine phänomenale Leistung mit der Goldenen Palme und dem Oscar belohnt), dessen Karriere im Anschluss eine mehr als sonderbare und unglückliche Wendung nehmen sollte. Hier befindet er sich auf dem Höhepunkt seines Schaffens, verleiht seinem Wladyslaw Szpilman ein ausgemergeltes, verzweifeltes und dennoch niemals gänzlich resignierendes Gesicht. Trotz aller Hoffnungslosigkeit treibt ihn der unbändige Überlebenswille an, selbst als er nach der geglückten Flucht aus dem Ghetto weiter eingesperrt bleibt wie ein Tier im Käfig. Freiheit gibt es außerhalb der Mauern nicht, ganz im Gegenteil. Versteckt mitten in der Höhle der Löwen hängt sein Leben stetig am seidenen Faden, ist abhängig von Glück, Zufall und dem Vertrauen an die wenigen Verbündeten, die selbst jederzeit gefährdet sind oder gar zu Denunzianten werden könnten. Verdammt dazu, ein stiller, unsichtbarer Geist zu sein, in den bald gespenstischen Ruinen einer einst prächtigen Metropole.
Gänsehautmomente hält Der Pianist reichhaltig parat, ohne sie aufdringlich und billig-manipulativ zu erzwingen. Polanski war viel zu dicht dran, um nicht zu wissen wie sein Film auf ganz natürliche Weise seine maximale Wirkung entfalten kann. Ein zermürbendes Stück Kino, das am Ende einer schmerzhaften, aber ergreifend langen Reise doch noch einen Hoffnungsschimmer und den Glauben daran hinterlässt, dass die Menschlichkeit selbst in den schlimmsten Zeiten nicht völlig brach liegt. Was nach dem üblichen Hollywood-Kitsch klingt, ist ebenfalls Teil der wahren Geschichte. Eigentlich kaum zu glauben, wenn man das alles miterlebt hat. Und wir reden hier nur von der Erfahrung vor dem Bildschirm.